Mittwoch, 16. Februar 2011

Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen

Die psychische Abhängigkeit, wie in Sekten und bestimmten Psychogruppen, kann mit dem Phänomen der Sucht verglichen werden. Kennzeichnend ist die Kritikunfähigkeit, starke Fremdbestimmung, finanzielle, zeitliche und sexuelle Ausbeutung, Konformität und Verehrung der Autoritäten, bzw. ein Personenkult. In der Sekte kommt es zur Bindung an eine absolute Autorität, der man Verantwortung für sein eigenes Leben überträgt, aber ebenso die Einbindung in eine Gemeinschaft und deren strikte Hierarchie, die verbindliche Denk- und Verhaltensmuster vorgibt. Innere Bindungen und Beeinflussbarkeit sind normales menschliches Sozialverhalten. Aber das Ausmass der psychischen Abhängigkeit in extremen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften ist der entscheidende Unterschied! Die Gemeinschaft funktioniert wie eine "Sinnagentur". Verlassen der Gruppe ist dann entsprechend mit einem weitgehenden Sinn- und Beziehungsverlust verbunden. Über Gruppenkonformität, mit ihrem Wir-Gefühl, kommt es zur Abhängigkeit. Wenn die Gemeinschaft die Funktion hat, dem Menschen Sinn, Geborgenheit, Glück und Heil zu vermitteln, erhält sie, bzw. ihre Leitung eine Autorität, die manipulativ benutzt werden kann. Je exklusiver die geteilte Intimität vorher war, desto unerträglicher erscheint der Verlust bei einem Ausstieg. Aus realistischer Sicht muss argumentiert werden, dass völlig egalitäre Gruppen romantische Fantasie sind. Aber das Ausmass und die Zielrichtung der Beeinflussung lassen sich kontrollieren und einschränken. In Sekten wird aber gezielt davor gewarnt, dass eine Trennung vom Meister automatisch Unglück nach sich ziehen würde.
Problematisch ist auch, dass eine starke Gruppenmitgliedschaft zu einer "Diffusion von Verantwortung" führen kann. Für das, was man als Gruppenmitglied mit Unterstützung der Gruppe tut, fühlt man sich weniger verantwortlich, als wenn man eigenständig handelt. Dies kann als Ermutigung verstanden werden, bewirkt aber auch eine "Entmoralisierung". Die Manipulation kann so beschrieben werden: "Sie bekam das Gefühl in den Seminaren, etwas Besonderes zu sein, einen Auftrag bekommen zu haben, um Grosses verrichten zu können." Es kam bei den Betroffenen zu einer narzisstischen Aufblähung ihres Grössenselbst, das zu Überlegenheitsgefühlen gegenüber anderen führte und sie an die Gruppe und den Meister mehr und mehr band. Negative Gefühle können dabei nicht der idealen Gemeinschaft zugeschrieben werden. Die Ursache allen Übels muss bei äusseren Feinden gesucht werden. Wenn eine Gruppe die Selbstidealisierung zu weit treibt, wird die Projektion negativer Befindlichkeit nach aussen unvermeidlich. Anders ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit nicht mehr aufzufangen.
Ein anderer extremer Zugang ist Dogmatismus und Rigorismus. Dogmatismus führt zu geschlossenen Überzeugungssystemen, anstatt offen für Anderes und Neues zu sein. In Extremgruppen richtet sich das Leben in besonderer Weise an religiösen Vorgaben oder an einer weltanschaulichen Autorität aus. Die existenziellen Ängste machen manipulierbar. Die Asymmetrie zwischen Meister und Schüler fördert Projektionen und Fantasien. Die Meistergestalten verkörpern in der Innenwelt der Anhänger die Macht über das eigene Leben, die man selbst nicht hat. Asymmetrische soziale Beziehungen gehören zu Lehrern und Helfern. Aber sie sind dann durch unterschiedliches Wissen und Wohlwollen gekennzeichnet.
Psychische Abhängigkeit in Extremguppen entsteht hingegen:
- Wenn die fachlichen Standards (Theologie, Philosophie, Psychologie, usw.) ausser Kraft gesetzt werden. Es ist der Meister, der über alle andere hinausgewachsen ist.
- Wenn die Übertragung von Eigenverantwortung auf den Lehrer oder Helfer geförder wird, anstatt sie zu verhindern. Zum Beispiel wird die Hilflosigkeit des Anhängers seinen Problemen gegenüber betont und mit dem (angeblich) glänzenden Zustand des Meisters verglichen. "Was ich bin, kannst du weden - allerdings nur wenn du dich mir anvertraust [auslieferst]."
- Wenn die Zuständigkeit des Meisters zu einer Allzuständigkeit wird. Ein Schritt dazu ist, wenn man Grenzüberschreitungen toleriert, die häufig gezielt versucht werden (v.a. sexuelle Übergriffe, aber auch schon nur eine unübliche persönliche Nähe.) Der Meister fängt an das persönliche Leben zu kontrollieren.
- Wenn die Autorität des Meisters unhinterfragbar wird. Kritik wird nicht zugelassen.
- Wenn das bisherige Leben abgewertet wird, das neue Gemeinschaftsleben jedoch glorifiziert wird. Dadurch verliert der Anhänger aber einen Teil seiner Identität und wird leichter manipulierbar.
Eine "mittlere Distanz" ist bei Extremguppen nicht mehr möglich. Man kann sich nur entweder abgrenzen oder unterwerfen und in die Gruppe einfügen.

Zusammengefasst:
"Psychische Abhängigkeit von Extremgruppen lässt sich als soziale und innerseelische Bindung an eine Gemeinschaft und eine Autorität verstehen, die durch ihre exklusive Selbstdefinition als Sinn- und Werteinstanz und durch die Konkretisierung dieses Selbstverständnisses in hierarchischen Machtstrukturen ein hohes Mass an Sozialkontrolle ausüben, ein hohes Mass an Gegnerschaft gegenüber der Umwelt erzeugen und hohe Investitionen an Zeit, Geld und Dienstleistungen von den Mitlgliedern fordern. Der Verlust dieser Gemeinschaft und dieser Autorität stellt für die Anhängerschaft eine existenzielle Bedrohung dar, die man durch eine bis zum Äussersten gehende innere und äussere Anpassung vermeidet."

Die Grundlage für dieses Post ist der Artikel "Psychische Abhängigkeit in Extremgruppen" von Hansjörg Hemminger, in: Materialdienst - Zeitschrift für Religions- und Weltanschauungsfragen, Nr. 2, 2011, S. 43-54. Weiter kann auch das Buch "Religiöse Sondergemeinschaften, Psychogruppen, Sekten" von Roland Biewald und Harald Lamprecht, erschienen in der Evangelischen Verlagsanstalt, Leipzig, 2005 empfohlen werden.

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