Donnerstag, 29. November 2012

Bin ich ein Europäer?

Als Schweizer mit auch deutschen Vorfahren stell ich mir hin und wieder die Frage wer ich eigentlich bin? Das Problem eine persönliche Identität zu finden, ist eine ständige, sich neu stellende Herausforderung. Dabei bin ich überzeugt, dass wir versuchen sollten multiple Identitäten zu entwickeln. Angefangen bei der Verankerung im lokalen Bereich hier in Zürich, kann ich mich mit meinem Heimatland der Schweiz identifizieren. Dies v.a. weil ich fast mein ganzes Leben hier gelebt habe. Zusätzlich ist es die Identifikation mit meinen Vorfahren, welche aus dem Bündnerland stammen. Es steckt noch etwas von einem Rätoromanen in mir, also das Zugehörigkeitsgefühl zu einer verschwindend kleinen Ethnie von noch ein paar Zehntausend Menschen. Auch wenn ich diese Sprache selber nicht mehr gelernt habe, war ich doch als Kind immer wieder längere Zeit in Trun (GR). Meine ganze schweizer Verwandtschaft stammt aus dem selben Dorf. Erst die Generation meiner Mutter hat das Dorf verlassen und ist entweder in ein anderes Tal, in die Innerschweiz oder nach Zürich "ausgewandert". Väterlicherseits liegen meine Wurzeln in Deutschland, wo ich auch geboren worden bin. Als ich fünf Jahre alt war, sind wir zwar wieder in die Schweiz gezogen, aber ich habe auch weiterhin Verwandte auf der anderen Seite der Grenze. Deswegen kann ich mich auch mit den Deutschen, mit all ihren Grössen und leider auch ihren furchtbaren Abgründen identifizieren. Mein Interesse an Europa ist mehr von dieser Seite her geweckt. Da ich aber schon in jungen Jahren bereits einmal in Indien war, ist mein Horizont auch globaler geworden. Später habe ich Europa und Amerika kennengelernt. Eine prägende Zeit war mein Jahr am Europakolleg in Brugge. Zusammen mit anderen jungen Menschen aus allen Teilen Europas hatte ich eine gute Zeit und habe viel über das Projekt Europa gelernt. Ich finde es interessanter, wenn man sich auch mit Menschen und Ideen ausserhalb der Grenzen des eigenen Landes identifizieren kann. Dann beginnt für mich das Spiel mit einer pluralen Vielfalt.
Mit der aggressiven Postmoderne wurde das Ende des Subjekts ausgerufen. Das ist natürlich Unsinn! Aber das "Feld" von Zeichen und Symbolen prägt doch die Phantasie. Mein Interesse als Sozialwissenschaftler gilt der Westlichen Gesellschaft und dem, was sie zusammenhält? Dies ist ein breites Spektrum, dass von spiritueller und psychischer Energie, über Sozialkapital - dem moralischen Band zwischen den Menschen, zu Humankapital - dem Wissen und wie es einen in seinen Bann ziehen kann, bis zu Kapital - dem was angeblich die Welt beherrscht - reicht. Aber wenn man tiefer in das Verständnis der Westlichen Gesellschaft eintaucht, dann stellt man fest, wie es oft letztlich immer noch nur die brutale Machtlogik ist, die alles beherrscht!
Also fangen wir mit der Frage nach Sicherheit an und welche Organisationen in der westlichen Welt für Sicherheit sorgen. Heute ist es immer noch das transatlantische Militärbündnis der NATO mit seiner Abschreckungsdoktrin, welche für Friede und Stabilität in unseren Breitengraden sorgt. Es ist das Verteidigungsbündnis der westlichen Demokratien. Es soll die gemeinsam geteilten Werte von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten garantieren helfen. Wichtig für die NATO ist die demokratische Kontrolle der Streitkräfte. Die NATO dient der sicherheitspolitischen Absicherung der globalen Ökonomie. Die Amerikaner domminieren dieses Bündnis ziemlich unumschränkt. Sie verfügen über die neuste Spitzentechnologie und haben eine Armee, welche an Feuerkraft und globaler Präsenz unübertroffen in dieser Welt ist. Mit Feuerkraft, ist die militärische Möglichkeit gemeint, Gewalt gegen einen Gegner zu richten. Die sozialen Strukturen, welche in Amerika über dieses ultimative Machtsystem verfügen, zeigen Züge eines neuen Imperiums. Wenn wir rein aus der ökonomischen Logik heraus verstehen wollen, welches Interesse die Amerikaner an Frieden und Sicherheit in Europa haben, dann ist dies zunächst einmal das enorme Kapital, welches Amerikaner in Europa investiert haben. Geostrategisch ist das Interesse an Frieden in Europa zu verhindern, dass eine neue Diktatur in Europa entstehen könnte, welche Amerika militärisch bedrohen könnte. Schliesslich verbinden aber auch kulturelle Bande die Alte und die Neue Welt. Die Mehrheit der Amerikaner in der heutigen USA führen weiterhin ihre familiären Wurzeln auf europäische Vorfahren zurück. Kulturell ist Amerika im Grunde genommen, das abgekoppelte Kind, welches nach der Implosion der europäischen Kultur im Zweiten Weltkrieg, erwachsen geworden ist. Amerika hat seinen eigenen Stil der Moderne entwickelt.
Wo steht da nun Europa? Europa ist immer noch in viele Nationalstaaten aufgesplittet, mit jeweils eigener Kultur und eigenem Potential für Nationalismen. Einen amerikanischen Melting Pot gibt es nicht. Sollte es aber auch nicht geben, ist doch die Vielfalt der europäischen Kulturen Europas Reichtum. Die politische Klammer, welche unseren Kontinent zusammenhält, ist die Europäische Union. Ein Dach unter dem konfliktive Regionalismen gären können, ohne dass die Einbettung in die EU in Frage gestellt wird. Einige Katalanen, Schotten und Flamen streben z.B. nach staatlicher Unabhängigkeit. Aber kaum jemand stellt die Mitgliedschaft in der EU in Frage. Steht die EU doch für die Garantierung von Demokratie und umfassenden Grundrechten. Wirtschaftlich ist es heute zu einem grossen Teil die EU, welche den Rahmen für Handeln und Wirtschaften in Europa vorgibt. Im Prozess der europäischen Staatsbildung war die Verwirklichung des europäischen Binnenmarkts ein entscheidender Meilenstein. Mit der Ausbildung des europäischen Binnenmarkts wurde der freie Verkehr von Kapital, Waren, Dienstleistungen und Personen 1993 verwirklicht. Seit 1999 ist die Währungsunion für die 17 Länder der Euro-Gruppe Realität geworden. Sie war von Anfang an nicht unumstritten. Wurde damit doch eine Kernkompetenz des Nationalstaats aufgegeben und ein Haupttransmissionsriemen für die Wirtschaftspolitik wurde vergemeinschaftet. Durch den Einbruch der schweren Weltwirtschaftskrise seit 2007 ist die WWU zusehends aus dem Gleichgewicht geraten. Als letztlich politisch inspiriertes Projekt (die doch so konfliktiven Völker Europas enger aneinander zu binden) wird sie wahrscheinlich aber Bestand haben. Mit der Währungsunion geht auch das Ausbilden einer Sozialunion einher.
Mit der zunehmenden Integration von Bereichen der "hohen Politik" werden aber auch die Verwerfungen durch die unterschiedlichen nationalen Interessen in Europa wieder deutlicher, insbesondere in diesen wirtschaftlich so turbulenten Zeiten. Die Deutschen z.B. sind nicht mehr gewillt grenzenlos Geld für die ausufernden Staatsdefizite der Südeuropäer auszugeben. Die Briten wollten gar nicht erst den Euro einführen. Und die Franzosen müssen schauen, wie sie etwas von ihrem alten Hegemonieanspruch via europäische Institution retten können.
Nach dem der Versuch Europa eine Verfassung zu geben (2004) gescheitert ist, gelang jedoch der Rettungsversuch mit dem Vertrag von Lissabon (2009). Die europäische Konstruktion konnte so vor dem Komplexitätstot angesichts der zunehmenden Zahl von Aufgaben und gleichzeitig grösser werdender Mitgliedschaft gerettet werden. Die drei Pfeiler des griechischen Tempels des Vertrags von Maastricht (1992): Europäische Gemeinschaft mit dem Ziel einer Wirtschafts- und Währungsunion, Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres und der Versuch einer Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik wurden im Vertrag von Lissabon (2009) zusammengeführt. Gleichzeitig wurde mit dem Vertrag von Lissabon die Möglichkeit für eine differenzierte Integration innerhalb des Vertragsrahmens eröffnet. Ein Multispeed-Europa ist nun Wirklichkeit geworden.
Der spannenste Bereich der europäischen Integration ist derjenige der Gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik. Ein europäischer Aussenminister hat sich etabliert. Nur ist er weiterhin nicht sehr handlungsfähig. Hier geht es um den letzten, harten Kern staatlicher Souveränität. In Zeiten der Wirtschaftskrise werden auch die Rüstungshaushalte kleiner und die Amerikaner fordern die Europäer auf sich in Rüstungsfragen mehr zu spezialisieren. Dadurch würde aber die Dominanz der Amerikaner im Rüstungsbereich weiter vergrössert. Ein Ausweg wäre eine vertiefte Kooperation im Rüstungssektor. Hier bleiben aber die nationalen Vorbehalte weiterhin sehr hoch. Überraschend - vor einem längerfristigen Horizont - ist, dass es gelang den Nukleus für eine eigene, europäische Armee zu legen. Damit wurde souveränes, europäisches militärisches Handeln möglich. Nach dem unglaublichen Debakel der europäischen Paralyse während dem Jugoslawienkrieg in den 1990er Jahren, hat sich hier europäische Handlungsfähigkeit entwickelt. Es ist etwas mehr an EU-Actorness im transatlantischen NATO-Bündnis am entstehen. Die Grenzen dieser Handlungsfähigkeit hat jedoch der Lybienkrieg vom letzten Jahr gezeigt. Es war eine französisch-britische Allianz, welche ohne die Amerikaner und NATO-Unterstützung nicht auskam.
Wer diese Ausführungen liest, merkt mein Herz schlägt für Europa. Die EU ist die Antwort auf das ungeheure Grauen und das bisher unübertroffene Ausmass an Verwüstungen, welche der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. Gleichzeitig können die Herausforderungen der zweiten Moderne in Europa nur gemeinsam angepackt werden.
Dennoch möchte ich nicht zu einem simplen Europa-Nationalisten verkommen. Vielmehr gilt es genauso den Blick auf das Ganze der Weltgesellschaft, auf das Schicksal der Menschheit zu richten. Aus dieser Perspektive betrachtet, macht es für mich Sinn, dass ein Land - wie die Schweiz - mit einer langen historischen Tradition der selbstgewählten Neutralität in internationalen Angelegenheiten einen anderen Weg wählt als Kern-Europa oder schöner formuliert: das föderalistische Herz Europas (Frankreich-Deutschland, Benelux, plus). Die Schweiz ist mit ihrem Föderalismus, welcher ein friedliches Zusammenleben von vier Kulturen ermöglicht, ein Modell par excellence für Europa. Sie steht dem europäischen Geschehen gegenüber auch nicht komplett ablehnend gegenüber. Über umfangreiche bilaterale Verträge ist die Integration der Schweiz in die EU schon ziemlich weit fortgeschritten. Wie die Sondertouren der Briten und die Zahlungsverweigerung der Deutschen aber zeigen, ist Europapolitik auch heute noch harte Interessenspolitik. Mir scheint, mein Heimatland ist noch etwas zu reich für eine volle Europaintegration. Dies die harte Einsicht für den Idealisten in mir.
Anderseits hat das Abseitsstehen der Schweiz aus globaler Perspektive betrachtet einige grosse Vorteile. Es gilt im Multilevel-Game die globale Perspektive nicht aus den Augen zu verlieren. Das ich Amerika zwar schätze, aber von einer totalen amerikanischen Hegemonie auch nicht begeistert bin, hat das weiter oben Geschriebene hoffentlich zum Ausdruck gebracht. Einerseits ist es gut, dass sich unter Französisch-Deutscher Führung ein Gegengewicht gegen die angelsächsische Hegemonie entwickelt. Aus globaler Perspektive betrachtet ist es gleicherweise gut, dass ein paar kleine, hochentwickelte Länder - wie z.B. die Schweiz und Österreich - nicht NATO-Mitglied sind und auch dem Treiben einer entstehenden europäischen Armee gegenüber neutral bleiben! Die Schweiz sollte sich als globaler Ort der Begegnung positionieren. Mit ihrer jahrhunderte alten Tradition der selbstgewählten Neutralität und ihrer Identität als Willensnation von vier Kulturen ist sie dafür wie geschaffen.
Als neutrales Land konnte es der Schweiz gelingen, dass das CERN in Genf angesiedelt worden ist. Das Akronym CERN leitet sich vom französischen Namen des Rates ab, welcher mit der Gründung der Organisation beauftragt war, dem Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire. Die offiziellen Namen des CERN sind European Organization for Nuclear Research, bzw. Organisation Européenne pour la Recherche Nucléaire. Während das Pentagon in Amerika wohl seinen eigenen Teilchenbeschleuniger hat, ist das CERN in Genf der grösste zivile Teilchenbeschleuniger der Welt. 20 Länder sind an diesem Projekt beteiligt und Gastwissenschaftler aus 85 Nationen arbeiten dort. Das CERN liegt auf schweizerischem und französischem Territorium. In der liberalen Schweiz scheint die Bevölkerung keine Angst davor zu haben, dass beim Vorstossen in noch nie erkannte Welten des Allerkleinsten die Welt auseinanderfliegen könnte.
Wenn es nicht gerade um Militärisches geht, ist die Schweiz auch pragmatisch bereit differenziert in von der EU initiierten Projekten mitzuarbeiten. Das Asia Europe Meeting (ASEM) ist ein Beispiel dafür. Es ist der missing link im Versuch einer triadischen Stabilisierung des Weltsystems. Während sich die USA immer mehr nach Asien hin orientiert, wirtschaftlich wie militärisch, war die Zusammenarbeit zwischen Europa und Asien bis Ende der 1990er Jahre unterentwickelt. Mit dem ASEM ist eine neue Brücke zwischen den beiden alten Zivilisationen geschlagen worden.  
Die kleine Alpenrepublik Schweiz hat sich während gut einem halben Jahrtausend aus dem Getriebe der europäischen Grossmachtpolitik herausgehalten und ist mit dieser Neutralitätsstrategie gut gefahren. Die Neutralität Österreichs ist dagegen erst ein paar Jahrzehnte alt. Österreich ist historisch belastet durch seinen Anschluss an das Grossdeutsche Reich während dem unsäglichen Zeitabschnitt der Naziherrschaft. Die Siegermacht Sowjetunion hatte der Wiederherstellung einer österreichischen Republik nur unter der Bedingung ihrer Neutralität zugestimmt.
Für mich haben internationale Verhandlungen eine grosse Bedeutung. Dabei ist es oft entscheidend wo und auf welchem Boden wichtige internationale Konferenzen stattfinden und unter welchen Bedingungen. Für das EU-Europa ist es das Consilium des Ministerrates im belgischen Brüssel, das Europa-Parlament im französischen Strassburg und der Euro-Tower im deutschen Frankfurt. Dort ist die ganze Infrastruktur installiert und die Übersetzer sind vor Ort. Für die ganze Welt jedoch, insbesondere für den "peripheren" Rest der Welt (Nicht-NATO-US-EU-Land) sind die VN ein entscheidender Verhandlungsort. Die Bedeutung der VN nimmt im Zuge einer weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen hoffentlich weiter zu! Nun liegt der Hauptsitz der VN aber genau in New York. Dem Zentrum Amerikas neben, nach, vor Washington. Wie gut ist es da, dass es einen zweiten Sitz der VN im Genf der neutralen Schweiz gibt, und einen weiteren im Wien des neutralen Österreichs. Vergessen wollen wir auch nicht den Sitz der VN in Nairobi, im korrupten Kenia (Platz 154 von 178 untersuchten Ländern, Korruptionsindex von Transparency International).
Mir scheint es wichtig, für ein besseres Verständnis einer Konferenzatmosphäre auch auf die allgemeine kulturelle Stimmung zu achten, die vor Ort herrscht. Als ein möglicher Indikator für die kulturelle Stimmungslage, insbesondere im Hinblick auf die Akzeptanz von Minoritäten, möchte ich z.B. die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung von Homosexualität vorschlagen. In Kenia sind homosexuelle Handlungen illegal und werden hart bestraft. Das katholische Österreich hingegen, ist nicht mehr eines der Schlusslichter in Europa, wenn es um die Rechte von Schwulen und Lesben geht. Viel ist in Bewegung gekommen. Nicht zuletzt auf Druck der EU. In der Schweiz ist das Klima für LGBTs inzwischen recht liberal. Erstaunlicherweise auch in der Calvin-Stadt Genf.
Neben ihrem Realismus im Bereich von Geld und Handel, ist die Schweiz als reiches, neutrales, multikulturelles Land ein idealer Ort für globale Begegnungen. Die liberale, multikulturelle Atmosphäre ist dem Austausch von Ideen förderlich. Das sind die positiven, globalen spill-overs der schweizerischen Neutralitätspolitik. Neben den Banken, den beiden bedeutensten Universitäten der Schweiz (ETH und Uni Zürich) und dem Grossmünster als Symbol für die schweizerische Reformation in Zürich, gibt es Genf mit seinem Palais des Nations. Dies war der Gründungsort des Völkerbundes, einer Organisation, die während der Zwischenkriegszeit vergeblich versucht hatte den europäischen Frieden zu sichern. Inzwischen hat die Nachfolgeorganisation - die VN - dort ihren zweiten Hauptsitz, nach New York, aufgebaut. Die Möglichkeit für die internationale Staatenwelt sich auch noch an einem anderen Ort zu treffen, als im Zentrum der amerikanischen Macht, scheint mir von grosser Bedeutung zu sein! Der zweite Sitz der VN in Genf bietet diese Möglichkeit. Alte Grossmächte, wie z.B. Russland (Militärmacht) und Japan (Wirtschaftsmacht) und neue, aufstrebende Grossmächte, wie z.B. China (Wirtschafts- und zunehmend auch Militärmacht), Indien oder Brasilien (beides wachsende Wirtschaftsmächte) haben so die Möglichkeit sich etwas ausserhalb des unmittelbaren Einflussbereichs der amerikanischen Macht zu treffen. Ein zweiter Sitz der VN macht auch Sinn, wenn wir an die Möglichkeiten eines terroristischen Anschlags auf die VN denken. Dadurch dass die VN mehrere Standorte haben, können sie in einem Notfall auch ausweichen.
Damit die Schweiz auch weiterhin als neutraler Ort der Begegnung dienen kann, sollte sie nicht der amerikanisch dominierten NATO beitreten. Zur Aufrechterhaltung der schweizerischen Neutralität gehört ebenfalls sich nicht in eine entstehende Europaarmee einbinden zu lassen.
Ich möchte aber noch beim zweiten Sitz der VN in Genf bleiben. Neben den VN haben sich weitere wichtige internationale Organisationen und Verhandlungsorte in Genf angesiedelt. Nennen möchte ich nur noch die WTO und die ILO. Zahlreiche globale zivilgesellschaftliche Akteure haben ebenfalls in Genf Fuss gefasst. Allen voran das 1863 gegründete IKRK, welches zum Wegbereiter des humanitären Völkerrechts (ein Euphemismus für "humane" Kriegsführung) wurde. Dieses leistet seither hochgeschätzte humanitäre Hilfe in Kriegs- und Krisengebieten weltweit. Wenn wir bei den globalen zivilgesellschaftlichen Akteuren sind, ist das WEF in Davos die wohl prominenteste Organisation. Neben den CEOs der grössten Unternehmungen dieser Welt, treffen sich auch Spitzenpolitiker, führende Wissenschaftler, sowie Vertreter der Religionen und der Weltmedien. Geschätzt werden die informellen Begegnungen. Gleichzeitig betreibt das WEF etwas an agenda setting was globale wirtschaftliche und soziale Themen anbelangt. Die wohl wichtigste globale zivilgesellschaftliche Organisation im Bereich des Umweltschutzes - der WWF International hat es vorgezogen im waadtländer Gland ihren Hauptsitz zu beziehen, anstatt in der Smog-City New York.
Damit solche Treffen in der neutralen Schweiz möglich sind, muss die Schweiz auf eine eigenständige Verteidigung zurückgreifen können. Unter anderem auch um solche Treffen in einem geschützten Rahmen zu ermöglichen. Damit sind wir beim Thema Schweizer Armee. Das alte Massenheer und das Reduitdenken sind heute überholt. Die Bedrohungslage der Schweiz ist heute komplexer. Einerseits einfache Flüchtlingsströme an der Grenze ausgelöst durch eine technische Grosskatastrophe im benachbarten Ausland, anderseits Bedrohungen durch Raketenangriffe, Flugzeuge und Cyberkrieg von weit her. Das unmittelbare Umfeld der Nachbarstaaten der Schweiz kann als befriedet bezeichnet werden. Was die Schweiz auch der EU zu verdanken hat. Ein Krieg in unserer Nachbarschaft ist kaum wahrscheinlich. Ein kleines Abschreckungspotential sollte hier für die Zukunft genügen, sowie eine Verteidigung der schweizer Grenzen angesichts überbordender Flüchtlingsströme. Die Ursachen dafür dürften weniger in sozialen Unruhen liegen, als vielmehr in grosstechnischen Katastrophen im In- oder Ausland. Vorstellbar wären in der Schweiz oder im benachbarten Ausland die Kernschmelze eines Atomreaktors, ein verheerender Brand in einer Chemiefabrik oder ein Leck in einem biotechnisch tätigen Unternehmen. Dafür braucht die Schweiz v.a. einen ausgebauten Katastrophenschutz, der z.T. von der Armee gestellt werden kann. Bedrohungen durch Raketen und Flugzeuge aus langer Distanz würden wahrscheinlich bereits durch NATO-Massnahmen abgefangen werden. Ich glaube kaum, dass sich die Schweiz ein eigenes Raketenabwehrsystem leisten kann. Eine funktionsfähige Schweizer Luftwaffe scheint mir da schon sinnvoller zu sein, um z.B. terroristische Angriffe einer al-Qaida von der Schweiz abwehren zu können. Schliesslich sehe ich eine ständig wachsende Gefahr durch einen Cyberkrieg, der seinen Ursprung im Ausland oder in der Schweiz haben könnte. Zur Abwehr solcher Bedrohungen braucht es hochspezialisierte Fachkräfte. Um eine weitere Professionalisierung der Armee wird die Schweiz nicht herumkommen. Einerseits muss der Armee modernste technische Ausrüstung zur Verfügung gestellt werden: Flugzeuge, Mittel zur Bekämpfung von biologischen und chemischen Kampfstoffen, sowie die Informatik zur Abwehr eines Cyberkriegs. Anderseits muss sie aber auch über das notwendige Fachwissen verfügen, um diese Mittel richtig einzusetzen.
Ein paar Gedanken zum religiösen Bereich dürfen hier nicht fehlen. Die wichtigste internationale ökumenische Organisation - der ÖRK hat ebenfalls seinen Sitz in Genf, in der Nähe der VN. Für die europäische protestantisch-reformierte Christenheit scheint mir die schweizerische Reformation von Bedeutung zu sein. Beim SEK lodert das Zünglein der liberalen Religiosität etwas stärker als in der EKD. Dies hat jetzt aber nichts mehr direkt mit der Neutralität der Schweiz zu tun. Aber das liberale Klima Zürichs hat eine progressivere Bibelübersetzung - die Zürcher Bibel von 2007 - im Vergleich zur Einheitsübersetzung der Bibel in Deutschland hervorgebracht.
Last but not least, komme ich zur Philosophie. Hier scheint mir Zürich eine fruchtbare Verbindung von Geist und Kapital eingegangen zu sein. Das zukünftige Standartwerk der Philosophiegeschichte für den deutschsprachigen Raum und wohl weit darüber hinaus - "Der Grundriss der Geschichte der Philosophie" - wird in der komplett überarbeiteten Neuausgabe von Prof. Helmut Holzhey (Uni Zürich) herausgegeben. Es ist aus einer wahrlich europäischen Perspektive heraus geschrieben und dürfte im Bereich des Geistes die Ausformung einer europäischen Identität mitbeeinflussen. Ich bin mir nun nicht ganz sicher, ob wir dieses Meisterwerk nur dem Genie Helmut Holzheys zu verdanken haben oder auch dem Umstand, dass dieses Werk aus der Schweiz kommt? - Sind seine deutschen Fachkollegen vielleicht zur Überzeugung gelangt, dass nach dem Unheil, das sie mit Heidegger in der Geisteslandschaft angerichtet haben, es ein schweizer Redaktionsteam sein sollte, dass die europäische Philosophiegeschichte herausgibt?
Und zu allerletzt möchte ich dem liberalen Geist Zürichs danken, dass er mit Paul Feyerabend und seinem "Nachfolger" Elmar Holenstein mitgeholfen hat, dass befreiende Denken der guten Postmoderne in die Welt zu bringen. In diesem Geist möchte ich mich aus einer postmodernen, dezentrierten, weltgesellschaftlichen Perspektive als Europäer bezeichnen!

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