Sonntag, 21. November 2010

Bekenntnis und Streitgespräch (Ueli Greminger)

"Ich glaube an die Sonne,
auch wenn ich sie nicht sehe.
Ich glaube an die Liebe,
auch wenn ich sie nicht fühle.
Ich glaube an Gott,
auch wenn er schweigt."
Ueli Greminger, Pfarrer, St. Peter, Zürich


Streitgespräch über Gott und die Welt

(als Rollenspiel)

Gott ist frei und nicht an die Vorstellungen gebunden, die wir Menschen uns von ihm machen. Und doch können wir nicht anders, als uns Gott irgendwie vorzustellen. Machen wir uns bewusst, dass es da ganz verschiedene Gottesvorstellungen gibt. Darum dieses Rollenspiel: 5 Personen kommen miteinander ins Gespräch über Gott und die Welt. Die besondere Sicht jeder Person ist möglichst kurz und anschaulich beschrieben, so dass nach einem Textstudium von einer Viertelstunde jeder Spieler auf das Streitgespräch vorbereitet sein sollte.
Stellen wir uns 5 Personen vor, die miteinander über Gott und die Welt streiten!

Die 5 Positionen:
(Sie sind konstruiert und kommen in der Praxis meist irgendwie vermischt vor)
1. Die religiös-konservative Sicht.
2. Der Protest
3. Die naturreligiöse Sicht
4. Die esoterische Sicht
5. Die modern-religiöse Sicht.


1. Die religiös-konservative Sicht von Gott und der Welt

Die Welt und die Mensche sind von Gott erschaffen. Darum sind sie eigentlich gut. In der ersten Schöpfungsgeschichte am Anfang der Bibel heisst es zudem, was Gott erschaffen hat, regelmässig „Und siehe es war gut“.
Beschädigt allerdings wird diese gute Schöpfung durch den Sündenfall, der ein Teil der zweiten Schöpfungsgeschichte ist. Weil Adam und Eva die ihnen von Gott gesetzte Grenze überschreiten - von der verbotenen Frucht essen - greift Gott durch und vertreibt die beiden aus dem Paradies.
Was immer an Bösem passiert auf dieser Welt (Ungerechtigkeit, Gewalt, Naturkatastrophen), es liegt immer daran, dass die Menschen die ihnen von Gott gesetzte Grenze überschreiten.
Weil die Menschen dauernd die ihnen vom Schöpfer gsetzten Grenzen überschreiten, muss dieser immer wieder korrigierend eingreifen.
Gott aber hat mit der Welt und den Menschen langfristig einen Plan. Er will die Welt und die Menschen zur Vollendung führen. Gott nimmt auch schmerzhafte Prozesse, z.B. Naturkatastrophen, Ungerechitkeit, Krieg in Kauf, um seinen Plan zum Ziel zu führen. Vom Ziel her gedacht sind die schmerzhaften Prozesse als Wehen der Endzeit zu begreifen. Jedes Leid, jedes Unglück, jedes Erdbeben will uns Menschen eine Mahnung zur Umkehr sein.
Das Neue Testament bezeugt, wie Jesus mit seinem Leben, seinem Kreuzestod und seiner Auferstehung den Bann des Bösen durchbrochen hat, so dass wir Menschen durch ihn zur Vergebung und zum Gottvertrauen kommen.
Am Ende wartet ein Platz bei Gott auf uns. Aber bis es soweit ist, haben wir uns auf der Welt zu bewähren, Gottes Willen immer besser zu erfüllen, am Bekenntnis zu Jesus Christus festzuhalten und Nächstenliebe zu üben.


2. Der Protest

Bei all der Ungerechtigkeit, bei all dem Unglück , das auf dieser Welt geschieht, frage ich mich, wie das der liebe und gerechte Gott zulassen kann. Oder ist Gott gar nicht lieb und gerecht oder gibt es ihn gar nicht? Wenn unschuldige Kinder sterben, wie kann da Gott einfach zuschauen und nicht eingreifen?
„Der Mensch denkt, Gott lenkt“ heisst es. Aber seien wir doch ehrlich: Soll ich etwa an einen Gott glauben, der die Welt so ungerecht, lieblos und nachlässig regiert? Dann all die Geschichten von Adam und Eva zum Beispiel oder vom Sündenfall! Die soll einer glauben. Die sind doch nur gut, um den Menschen ein schlechtes Gewissen einzuhämmern. Schuldig, sündhaft soll ich mich fühlen, klein und elend, damit Gottes Glanz umso heller leuchtet. Schuldig sein soll ich - jedenfalls irgendwie mitschuldig am ganzen Elend der Welt. Aber das bin ich nicht.
Nein - ich will selber denken, selber über mein Leben und meine Zukunft entscheiden.


3. Die naturreligiöse Sicht

Ich halte mich an die Natur. Sie ist unser Lebensgrund. Der Mensch sollte sich in die Natur einfügen, dann sähe die Welt besser aus. Die Natur ist doch Gottes Schöpfung. Warum dann nicht Gott in der Natur entdecken?
Mir gefällt der Philosoph Jean-Jaques Rousseau, der die Natur untersucht und wunderbar beschrieben hat. Er verteidigte die Natur in einem Brief an Voltaire:
„Alles in der Natur ist gut, soweit es aus den Händen des Schöpfers hervor-geht. Alles dagegen wird schlecht unter den Händen des Menschen.“
Für mich ist es also nicht Gott, der in das Weltgeschehen direkt eingreift, sondern indirekt über die Natur. Wenn die Menschen die von der Natur gesetzten Grenzen überschreiten, dann schlägt die Natur zurück und verweist die Menschen in ihrer Grenzen. Im Fall der Naturkatastrophe heisst es dann nicht: „Gott greift ein“ sondern „Die Natur schlägt zurück.“
Ich erlebe Gott in der Natur, im Wald, auf einer Bergwanderung, bei einem Sonnenuntergang. Die Natur ist gut und schön. Es sind die Menschen, die die Natur zerstören.
Freiheit bedeutet, dass sich der Mensch in die Natur einfügt, sich mit der Natur anfreundet. Sünde bedeutet: Gegen die Natur handeln, die Natur unterdrücken, die Natur zerstören.


4. Die esoterische Sicht

Gott ist für mich eine unsichtbare Kraft. Der ganze Kosmos ist durchdrungen von dieser göttlichen Kraft. Alle Dinge auf dieser Welt haben einen geheimnisvollen Zusammenhang. Nichts ist zufällig oder ohne Sinn. Nur sehen wir Menschen den Zusammenhang halt nicht immer. Aber ich habe schliesslich mein Leben geschenkt bekommen, um zu lernen und all die gehemnissvollen Zusammenhänge zu verstehen.
Von der Mutter Erde kann ich lernen, von den Sternen, von alten religiösen Schriften, von der chinesischen Medizin. Von der indischen Religion lernen wir, dass unsere Seele nach unserem Tod wieder zur Welt kommt (Reinkarnation) und so eine Chance bekommt, noch reiner und vollkommener zu werden.
Alles, was meinem Leben passiert, hat seinen Sinn. Nichts ist Zufall. Auch wenn das allerschlimmste geschähe, es hätte seinen Sinn. Ich müsste allerdings bereit sein, loszulassen und anzunehmen. Dazu ist es natürlich entscheidend, dass ich vorbereitet bin.
Ich muss die richtige Haltung, die Haltung des Fliessenlassens der göttlichen Energie einüben. Dazu gehört das positive Denken und das Loslassen von schlechten Gefühlen. Wenn es mir gelingt, die göttlichen Energien durch meinen Körper und meinen Geist fliessen zu lassen, dann bin ich auf dem rechten Weg. Wenn es da nur keinen Stau gibt. Der kann nämlich seelische und sogar körperliche Krankheiten auslösen.


5. Die modern-religiöse Sicht

Ich finde, die Christen sollten das moderne Weltbild und das moderne Leben akzeptieren:
- Dass die Welt nicht in 7 Tagen entstanden, sondern über Jahrmillionen.
- Dass der Mensch mit dem Affen verwandt ist.
- Dass man die Existenz von Gott wissenschaftlich nicht hat beweisen können.
Die moderne Wissenschaft hat den mittelalterlichen, allmächtigen Gott verdrängt und auf dem leeren Thron seinen Platz eingenommen. War es nicht ein grosser Fehler, dass die Kirchen das mittelalterliche Gottes- und Weltverständnis verteidigten. Damit haben sich die Kirchen unglaubwürdig gemacht. Anstatt in aller Offenheit und Ehrlichkeit das moderne naturwissenschaftliche Weltbild zu akzeptieren.
Gemäss dem naturwissenschaftlichen Weltbild hat die Natur einen hohen Grad von Selbstorganisation und dazu gehört das Leben des Menschen mit all seinen Möglichkeiten und Grenzen, dazu gehört die Lebensfreude und dazu gehört auch das Leid, dazu gehören auch die Naturkatastrophen.
Das Leben in der Welt ist von der Natur aus nicht einfach gut oder schlecht, es ist beides. So ist auch der Mensch nicht einfach gut oder schlecht. Er ist von Natur aus zu beidem fähig. Wenn ein Tsunami aufbricht, dann ist das für die Welt, für das Weltall, für den Kosmos, eine kleine Verschiebung. Für die Menschen eine gewaltige Naturkatastrophe und für die Betroffenen eine menschliche Katastrophe. Die Natur selber nimmt keine Rücksicht auf den einzelnen Menschen. Die Natur ist total unpersönlich und ohne Gnade. Sie kennt letztlich nur das Gesetz des Stärkeren.
Der Astrophysiker Arnold Benz beschreibt die Zukunft der Welt so: „Das Sonnensystem wird sich infolge des endlichen Energievorrats der Sonne drastisch ändern, und die Erde wird nicht mehr im heutigen Sinn bewohnbar sein, zunächst zu heiss, später zu kalt, für jede uns bekannte Form von Leben. Die Sonne wird erkalten, die Erde wird sich im Raum verlieren - Lebewesen, Planeten, Sterne, Galaxien, das Universum - alles steht auf Zerfall.“
Gott greift nicht direkt von aussen in das Leben ein, sondern durch Menschen, die sich mit ihm verbinden. Gott ist die positive Kraft auf dieser Welt, aber nur wenn sich die Menschen darauf einlassen.

aus dem Bolg von Ueli Greminger:
Fragmente einer konfirmandentauglichen Theologie

Samstag, 20. November 2010

Posttraumatische Belastungsstörung

Die Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) ist ein anhaltendes intensives Gefühl der Angst, Hilflosigkeit und des Entsetzens nach schwer belastenden Erfahrungen. Die auslösenden Ereignisse haben in der Regel mit Tod, schweren Verletzungen oder massiven Bedrohungen zu tun (z.B. Überfall, Vergewaltigung, Folterung, Kriegshandlungen, Erfahrungen in einem Konzentrationslager, aber auch Naturkatastrophen, Brände, Explosionen, Unfälle, u.a.). Das Resultat ist eine nicht ausreichend verarbeitete traumatische Erinnerung. Mit typischen Symptomen, wie das Wiedererleben der Erinnerung, das Sich-Aufdrängen des Geschehens von damals. Diese Ängste können so domminierend sein, dass der Betroffenen seinen Alltag einschränken muss, sich zurückzieht und Kontakte vermeidet.
Das Schlimmste ist die Erfahrung von Ohnmacht und Hilflosigkeit. In einer Situation gefangen zu sein, wo ich nicht flüchten kann, wo ich nicht handeln kann. Wo ich dem anderen Menschen ausgeliefert bin. Ich habe keinerlei Kontrolle über mein eigenes Schicksal. Diese Beschreibung kommt uns ja inzwischen bekannt vor. Ist sie doch nur eine Zuspitzung der allgemeinen Condition humaine. In unserer Nichtigkeit sind wir immer vom Tod bedroht. Aber die konkrete Wahrnehmung ist nicht immer gleich stark. Und natürlich sind wir unter normalen Umständen nicht ständig traumatisierenden Gewalterfahrungen ausgesetzt. Die psychoanalytische Behandlung versucht das traumatisierende Geschehen nocheinmal genau durchzugehen. Aber dieses Mal so, dass die Eindrücke und Erfahrungen verarbeitet werden können.

Weisser Ring, Opferhilfeorganisation

Jeanny I, Jeanny II, by Falco
19, by Paul Hardcastle

Freitag, 19. November 2010

Nichtigkeit und Andersheit

Das Sein zum Tode, das Sterben-Müssen jedes Menschen und die damit verbundene Angst sind wohl das Grundübel unserer Existenz. Im Zusammenhang mit psychisch krankhaften Formen des Seins zum Tode sind v.a. zwei Begriffe zentral: Nichtigkeit und Andersheit. Mit der Nichtigkeit unserer Existenz kommt zum Ausdruck, dass wir jederzeit sterben könnten. Es steht nicht in unserer Macht über den Tod zu bestimmen. Es ist der Tod, der alles einmal einreissen wird. Der Sadist hält diese Einsicht aber nicht aus. Er versucht durch Ermächtigung, durch Macht über andere Menschen und durch Zufügen von Leiden der eigenen Nichtigkeit zu entgehen. Insofern er Macht über andere Menschen hat und ihnen Leid zufügen kann, scheint er - auf Zeit - von seinem eigenen Leiden am Dasein befreit zu sein. Aber das Problem verschlimmert sich nur. Abgelenkt und fasziniert vom Leiden des Anderen findet er keine Zeit sich seinem eigenen Sterben-Müssen zu stellen. Jedes Leiden, das ihn selber trifft, willl er hundertfach anderen an Leid zufügen. Aber auch wenn er die Macht über das Leben und Sterben von Tausenden von Menschen hat, wie z.B. damals in den Nazi-KZs, entgeht er doch nicht seiner eigenen Sterblichkeit und seinem Leiden daran. Und wenn er einmal mit seinem Sadismus innehält, wird er feststellen, dass er sich in unsägliches Leiden, Schuld und Scham verstrickt hat. Der Weg aus diesen Verstrickungen geht wohl nur durch eine Reflexion auf sich selbst. Er muss lernen, wie es z.B. auch der Buddhismus lehrt, sich auf seinen eigenen Tod einzustimmen, die Vergänglichkeit unserer Welt zu akzeptieren. Die Antwort auf unsere Nichtigkeit sollte nicht im Streben nach Macht und im Quälen liegen, vielmehr in der Liebe! Ist die Liebe doch die Kraft, die alles heilen kann, und im mit-leiden mit anderen noch grösser wird. So zumindest die Überzeugung der Religionen.
Der zweite zentrale Begriff ist die Andersheit. In meinem Blog-Post vom 11. November '10 habe ich im Zusammenhang von Sadismus und Masochismus dazu längere Textauszüge aus dem Buch von Alice Holzhey 'Leiden am Dasein' präsentiert (vgl. Leiden am Dasein 2). Der Grundgedanke scheint mir wieder im Verständnis der Angst zu liegen. Der Andere kann, durch seine Andersheit, mich daran erinnern, dass ich in einer Welt lebe, die ich letztlich nicht verstehe, und die mir Angst macht. Was die Welt ist, wer die anderen im Letzten sind, und auch wer ich selber bin, bleiben mir schlussendlich immer ein ewiges Rätsel. Dennoch glaube ich, dass man der Andersheit des Anderen auch sehr positive Aspekte abgewinnen kann. Anstelle von existenzieller Vereinsamung steht der Dialog mit dem Du im Zentrum. Martin Buber hat das schön dargelegt:

"Das menschliche Leben hat seinen Absolutsheitssinn darin, dass es seine eigene Bedingtheit faktisch transzendiert, d.h. dass der Mensch das, dem er gegenübersteht und mit dem er in ein reales Verhältnis von Wesen zu Wesen treten kann, als nicht weniger wirklich sieht denn sich selbst, es nicht weniger ernst nimmt als sich selbst. Das menschliche Leben rührt an die Absolutheit durch seinen dialogischen Charakter, denn trotz seiner Einzigkeit kann der Mensch, wenn er auf seinen Grund taucht, nie ein Sein finden, das in sich ganz ist und als solches schon an das Absolute rührt; nicht durch ein Verhältnis zu einem Selbst, sondern nur durch ein Verhälnis zu einem anderen Selbst kann der Mensch ganz werden. Dieses andere Selbst mag ebenso begrenzt und bedingt sein wie er, im Miteinander wird Unbegrenztes und Unbedingtes erfahren. Die grosse Beziehung gibt es nur zwischen wirklichen Personen. Sie kann stark wie der Tod sein und die Brücke über den Abgrund der Weltangst von Selbstsein zu Selbstsein schlagen." aus: Das Problem des Menschen.

Montag, 15. November 2010

Lucifer & True Faith

Lucifer, by The Alan Parsons Project

True Faith, by New Order

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We are part of a whirling, swirling, chaotic, energetic force of life - a force that loves complexity, loves creativity, loves adaptation, loves cooperation. Whether you call that force God, Spirit of Life, Creative Spirit, or simply evolution, it is not a play-it-safe sort of force. It is fearless in the face of challenge, and danger, and death. It surrounds us and inhibits us. We are one of its manifestations.
Take that in for a minute. Feel the force of life inside you. Feel your kinship with other living things. Know deeply the motion and energy of life teeming all around you - and deep inside you. Gail Forsyth-Vail
          
Baraka (Blessing)

Samstag, 13. November 2010

Philosophisches Kopfkino

3sat hat eine Reihe interessanter Kurzfilme zu verschiedenen philosophischen Themen gedreht, "Philosophisches Kopfkino" genannt. In ein paar Minuten werden zentrale Themen der Philosophie, wie Idealismus, Empirismus, Hermeneutik, Ethik, Dialektik, Wahrheit, Logik, Existenzialismus und Glauben angeleuchtet.

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Das Leben ist eine Krankheit, die tödlich verläuft.
Oder ist es ein spannender Film mit Happy End...?

Donnerstag, 11. November 2010

Leiden am Dasein 2 - Sadismus und Masochismus

Pathologische Formen des Seins zum Tode: Wunsch nach dem Unmöglichen, nämlich der Aufhebung menschlicher Begrenztheit und Nichtigkeit!
Es sind Versuche, "Differenz und Andersheit aus dem Leben radikal zu eliminieren. Die Weigerung, die Nichtigkeit des Existierens wenigstens partiell anzuerkennen, vollzieht sich entweder als Zerstörung des Anderen in Sadismus und Hass oder als Selbstzerstörung in Masochismus und Melancholie. [...]
Der Sadist versucht, den anderen Menschen zum blossen Objekt zu erniedrigen, das heisst ihn zu zwingen, seine Andersheit, seine Freiheit, seinen eigenen Willen preiszugeben. Es ist aber die Andersheit des anderen Menschen, an der ich meine eigene Begrenzung erfahre. [...] In der Absicht des Sadisten, einen anderen Menschen zum willenlosen Instrument zu machen, liegt der Versuch, das Faktum der Unverfügbarkeit des Anderen zu widerlegen und die eigene absolute Macht mittels Erniedrigung und Entselbstung des Anderen zu demonstrieren.
Der Masochist tendiert dazu, seine eigene Freiheit aufzuheben, sich buchstäblich von ihr zu befreien, blosses Objekt zu werden für ein Subjekt. Die Verwandtschaft von Sadismus und Masochismus ist immer wieder hervorgehoben worden. Um das Gegenüber zum Anderen, das mich meine Begrenzung und Vereinzelung erfahren lässt, aufzuheben, kann ich mich entweder der Andersheit des Anderen bemächtigen wie der Sadist oder meine Selbstheit preisgeben und mich vom Anderen assimilieren lassen wie der Masochist. Das Ziel ist dasselbe, nämlich eine Form des Miteinanderseins zu erreichen, in der die Differenz zum Anderen, die mich auf mich zurückverweist, aufgehoben ist. Die Wege sind gegensätzlich: Der Sadismus beinhaltet einen Machtanspruch, den Willen, sich zu entgrenzen durch Zerstörung der Andersheit des Anderen, letzlich Hass gegenüber dem Anderen als dem Unverfügbaren. Der Masochismus verweist auf Ohnmacht und letztlich auf Melancholie dort, wo die Aufhebung des eigenen Selbst im Anderen nicht (mehr) gelingt oder gar nicht (mehr) versucht wird. Der Sadist hat sich als "Subjekt" gesetzt und will ein Leben realisieren, das die Grenzen zum Anderen sprengt, der Masochist weicht vor der Erfahrung, er selbst zu sein, zurück in die Rolle des willenlosen und damit schuldlosen "Objektes".
Hass und Melancholie sind damit bereits angesprochen. Sie repräsentieren die radikalsten Formen der Antwort auf die 'Frage' des Todes, nämlich die Weigerung, das Leben als ein Sein zum Tode zu übernehmen, beziehungsweise das Leiden daran. Der Hassende wil nicht nur Verfügung über den Anderen, sondern er will eine Welt realisieren, in der es den Anderen nicht gibt, was nur als Zerstörung der Welt und letztlich auch seiner selbst möglich ist. Der Melancholiker will in einem anderen Menschen aufgehoben sein; mehr noch, sein Wunsch, von der eigenen Ungeborgenheit und Schuldhaftigkeit befreit zu sein, lässt sich in keiner Form des Miteinanderseins erfüllen. Die Begrenzung, die zum menschlichen Existieren als je eigenem gehört, ist nur aufhebbar in der Zerstörung seiner selbst. [...]
Wo der Hass die Andersheit des Anderen zerstört, versucht der Eros, das Fremde und Andere zu assimilieren und zu integrieren. Diese Bewegung führt aber nicht in die Ruhe, sondern zu einer "Komplizierung", die imer neue Spannungen bringt. Der Eros wird darum von Freud als 'Störenfried' charakterisiert. Er stört das mächtige Streben nach Erlösung von aller Spannung, weil er nicht die Zerstörung des Anderen, sondern die Vereinigung mit ihm sucht. Auch die Liebe eignet - gemäss ihrem Wunschcharakter - zumeist ein possessiver Zug, und je stärker sich dieser Zug ausprägt, umso näher kommt sie dem Hass, umso grösser wird die Gefahr, im Falle der Widerständigkeit des Anderen in Hass umzuschlagen. [...]
Die Liebe vermag umso mehr Disparates zu integrieren und damit Spannung auszuhalten, je mehr sie nicht einfach der Abwehr von Angst dient. Heidegger selber warnt davor, die Angst aushaltende Anerkennung des eigenen Daseins als Sein zum Tode im Sinne eines Existenzideals zu verstehen. [...] Als solche aber ist sie [die Angst aushaltende Anerkennung des eigenen Daseins als Sein zum Tode] der Boden und Ermöglichungsgrund des Eros als lebensbejahender Kraft."
aus: Alice Holzhey-Kunz. 2001. Leiden am Dasein. Die Daseinsanalyse und die Aufgabe einer Hermeneutik psychopathologischer Phänomene. Passagen Verlag, Wien, S. 104, 105, 108, 109.

Mittwoch, 10. November 2010

Evolution und Nicht-Dualität

In a culture that values individual freedoms above and beyond anything else, it is all too easy to become self-centered and narcissistic. But consider, for a moment, the mind-expanding fact that our highly developed capacity for individuality is the product of a hundred thousand years of cultural evolution, and that cultural evolution is the product of three billion years of biological evolution, and biological evolution is the product of almost fourteen billion years of cosmic evolution. All of it is part of one unfolding process. This recognition engenders a profound sense of connectedness with the entire evolutionary continuum. As our awareness expands dramatically in the direct realization of the nonduality of absolute interrelatedness, our small, personal bubble of separate individuality bursts. Slowly but surely, we discover a powerfully implicating new moral context for our existence here at the leading edge of our evolving cosmos. Andrew Cohen

Dienstag, 9. November 2010

Leiden am Dasein

Worin besteht die "Seinslast" des Daseins, von dem der Mensch sich die Entlastung vom eigenen Sein wünscht? - Es ist jene Stimmung, welche das eigene Sein unverhüllt offenbart, die Angst!
"Das Dasein ist immer schon herausgesetzt in die "Welt des Nichts", in die Welt als das radikal unvertraut Unheimliche, das nicht in Sinn aufhebbar ist. Die Rede von der "Weltoffenheit" des Menschen hat also nicht nur den fundamentalen Unterschied zur Umweltgebundenheit der Tiere, deren Lebensführung über Instinkte geregelt und festgelegt ist, im Auge. Sie verweist auch auf den Charakter der menschlichen Welthaftigkeit, nämlich deren pure Offenheit, die weder Sinn noch Grund erkennen lässt. In der Welt zu sein heisst, in diese "Welt als Welt" herausgesetzt zu sein - in die "Unheimlichkeit". Das Unheimliche des eigenen In-der-Welt-seins erschliesst - worauf schon der Ausdruck "es ist mir unheimlich" hinweist - die Angst; in ihr bricht die vertraute Welt zusammen. Was in der Angst bedrängt, ist die Offenheit der Welt und das eigene Geworfensein in sie: das pure Faktum, dass ich bin und zu sein habe, dass mir das eigene Sein zu vollziehen aufgegeben ist, ohne dass an die Stelle der tierischen Instinktsicherung nun eine andere - nämlich eine sich durchhaltende Sinnsicherung getreten wäre. So radikal ungesichert exisiteren zu müssen, macht Angst und wird in der Angst unabweisbar - das Leben unter solchen Bedingungen führen zu müssen, ist eine Last. Dass die Ungesichertheit nur die Kehrseite der menschlichen Freiheit darstellt, vermag weder an der Bedrohlichkeit der Grundsituation noch am Lastcharakter des Lebens etwas zu ändern." Holzhey (2001: 94).
Ich finde diese Erklärung hat aber doch etwas beruhigendes. Es ist nicht eine böswillige Laune der Natur, die uns Menschen uns so ängstigen lässt, sondern quasi ein "Nebenprodukt" der Evolution. Damit der Mensch in die ungeheuren Höhen seiner zivilisatroischen Errungenschaften aufsteigen konnte, brauchte er ein Gehirn, das sehr viel Platz für Neues anbietet. Es war ein entscheidender evolutionärer Entwicklungsschritt, die Instinktdeterminiertheit der Tiere zu überwinden. Nur so wurde seine kulturelle Entwicklung möglich! Die radikale Weltoffenheit kann uns zwar ängstigen, war aber auch Voraussetzung um die Menschenwelt entstehen zu lassen. Mit dem freien Willen ist es ja etwas ähnlich doppeldeutiges. Einerseits lässt der freie Wille das Böse zu, anderseits würden wir sonst aber auch Gutes nicht aus freiem Willen tun. Und welchen Wert hätte das Gute dann noch? - Aber weiter im Textauszug aus dem Buch von Alice Holzhey "Leiden am Dasein" (Passagen Verlag, Wien, 2001).
"Im "Verfallen" wende ich mich von der unverhüllten Erfahrung des eigenen "Unzuhause-seins" in der Welt ab. Wohin? Auf eine vertraut-heimische Welt zu, Sinnorientierung suchend, welche ermöglicht, das eigene Leben führen zu können. [...] Denn offensichtlich steht die Konfrontation mit dem eigenen Sein in der Angst primär im Widerspruch zur Aufgabe, sich alltäglich um das konkrete Gelingen der eigenen Lebensführung zu kümmern. [...] Das Sein in der Angst ist kein lebbarer Zustand. Der Mensch ist also primär - aufgrund seiner Bedürftigkeit nach einem Zuhause in der Welt - ein wünschendes Wesen. [...] Dieser existenziale Wunsch nach Vertrautheit und Sinnsicherung kann sich wohl in den faktischen Wünschen nach Nähe, Wärme und Geborgenheit manifestieren, geht aber nicht in ihnen auf, weil er ebenso in den gegensätzlichen Wünschen nach Abenteuer und Ferne, nach dem Bezwingen von Gefahren und dem Bestehen von Mutproben und so weiter, begegnet." (Holzhey, 2001: 94-96).

***

Der unversöhnliche Widerspruch zwischen dem Wunsch des Menschen und der Verzweiflung an seinen Lebensbedingungen, die hoffnungslose Kluft zwischen der Frage des Menschen und dem Schweigen der Welt, das ist das Gefühl des Absurden!
Das Absurde ist aber als Gefühl nur ein Ausgangspunkt. Die Revolte ist die konkrete Willensäusserung. Denn der Weg führt vom Absurden nicht in den Nihilismus! Vielmehr gilt, dass obwohl "scheinbar negativ, da sie nichts erschafft, ist die Revolte dennoch zutiefst positiv, da sie offenbart, was im Menschen allezeit zu verteidigen ist." Einerseits weigert der Mensch sich seinem Sein zuzustimmen, anderseits stimmt er dem Wert des Menschen zu. Ricoeur über Camus
"Aber das wahre Leben ist im Innern dieser Zerrissenheit gegenwärtig. Es ist selbst diese Zerrissenheit. Was uns am Ende dieses langen Abenteuers der Revolte entgegenklingt, sind nicht optimistische Formeln, sondern Worte des Muts und des Geistes, die sogar Tugenden sind.
Keine Weisheit kann heute mehr geben wollen. Die Revolte stösst dauernd an das Böse, von wo aus sie nur einen neuen Anlauf nehmen kann. Auch bei seiner grössten Anstrengung kann der Mensch sich nur vornehmen, den Schmerz der Welt mengenmässig zu vermindern. Aber Leiden und Ungerechtigkeit werden bleiben und, wie begrenzt auch immer, nie aufhören, der Skandal zu sein. Das Leiden nutzt die Hoffnung und den Glauben ab. Es bleibt allein und ohne Erklärung. Die Revolte ist jedoch die Bewegung des Lebens selbst. Sie ist somit Liebe und Fruchtbarkeit, oder sie ist nichts. Am Ende dieser Finsternis ist ein Licht indes unvermeidlich, das wir schon ahnen und für das wir nur zu kämpfen haben, damit es sei. Über den Nihilismus hinaus bereiten wir alle in den Ruinen eine Renaissance vor. Doch nur wenige wissen es." aus Camus "Der Mensch in der Revolte"
Und schliesslich aus "Der Mythos des Sisyphos" (ebenfalls von Camus):
"Für einen Menschen ohne Scheuklappen gibt es kein schöneres Schauspiel als die Intelligenz im Widerstreit mit einer ihn überschreitenden Wirklichkeit." Aber "kann ich mich wirklich mit dem Geist des Lebens, so wie es mir gegeben ist, abfinden?"

Dienstag, 2. November 2010

Gewaltfreier Widerstand

Die Nichtzusammenarbeit mit dem Schlechten gehört ebenso zu unseren Pflichten wie die Zusammenarbeit mit dem Guten.
Es gibt in allen Sprachen der Welt ein Wort, welches dassselbe bedeutet und dieses Wort heisst "Nein". Wenn die Arbeitenden einmal begriffen haben, dass es in ihrer Macht steht, zu arbeiten oder nicht zu arbeiten, und dass sie es bestimmen können, mit wem sie zusammenarbeiten, dann werden die Reichen und die Gewaltherren ihre Macht verloren haben.
Es würde keine Diktatur geben, wen nur einige Millionen Menschen bereit wären, inn ein un der selben Stunde dasselbe zu tun - nicht weil ein Diktator es befielt, sondern weil sie von demselben Ideal und Zielbewusstsein durchdrungen sind.
Wenn die Wahl bestünde zwischen Feigheit und Gewalt, ich würde zur Gewalt raten. Ich glaube aber, dass Gewaltfreiheit der Gewalt himmelhoch überlegen ist. Gewaltfreiheit und Feigheit passen schlecht zueinander. Ich kann mir einen schwer bewaffneten Mann vorstellen, der in seinem Herzen doch feige ist. Im Besitz der Waffen liegt das Element der Furcht verborgen, wenn nicht gar der Feigheit.
Mahatma Gandhi
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We pray that we may live not by our fears but by our hopes,
not by our words but by our deeds.
O. Eugene Pickett