Samstag, 15. Dezember 2012

Die Schweiz, das grüne Auenland im Auge des Hurrikans?

Zur Zeit der Weimarer Klassik um 1800 waren Goethe und Schiller miteinander befreundet. Goethe schrieb die Tragödie des Dr. Fausts, eine Auseinandersetzung mit Mephistopheles. Sein Freund Schiller stiftete mit dem Wilhelm Tell den Urmythos der Schweiz. Er projezierte ein Arkadien, ein Auenland in die damals ferne Alpenrepublik Schweiz. Sein Stoff ist ein Drama, der Freiheitskampf der zukünftigen Schweizer gegen ihre Unterdrücker. Den Abschluss findet die Tell Sage im Rütlischwur.
Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
in keiner Not uns trennen und Gefahr.
Wir wollen frei sein, wie die Väter waren,
eher den Tod, als in der Knechtschaft leben.
Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.
Mit dem Bundesbrief von 1291 begann die Schweizer Eidgenosssenschaft. Zuerst als ein Schutz- und Trutzbündnis von Uri, Schwyz und Unterwalden. Diesem Nukleus der Urkantone schlossen sich immer mehr Kantone an. Bis 1797 hatte die Schweiz ihre noch heute gültigen Grenzen ausgebildet. Mit der Gründung der Schweiz als modernem Bundesstaat 1848 wurde die Schweiz zu einer Föderation, in welcher vier Sprachen gesprochen wurden und zwei Konfessionen zu einem mehr oder weniger friedlichem Zusammenleben fanden. Streitigkeiten zwischen den liberal-progressiven und den konservativ-katholischen Kantonen führten 1847 zuerst zu einem kleinen Krieg, dem Sonderbundskrieg. Nachdem das konservative Lager verloren hatte, wurde die Schweiz in einen modernen Bundesstaat umgewandelt. Die Confoederatio Helvetica wurde zu einem föderalen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild. Die Bundesverfassung von 1848 war die erste Verfassung der Eidgenossenschaft, die sich das Schweizer Volk selbst gab. Sie machte, weil die bürgerlichen Revolutionen in den Nachbarländern scheiterten, die Schweiz für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zur demokratisch-republikanischen Insel inmitten der Monarchien Europas. Da die Bundesverfassung in einem Bürgerkrieg wurzelte, stand ihr das in diesem unterlegene katholisch-konservative Lager anfänglich ablehnend gegenüber. Erst die Verfassungsrevision von 1874, welche den Übergang von einer repräsentativen zu einer halbdirekten Demokratie einleitete, ermöglichte die Aussöhnung der Katholisch-Konservativen mit dem liberalen Bundesstaat.
Während den darauf folgenden drei deutsch-französischen Kriegen bewahrte die Schweiz ihre Neutralität und konnte sich so aus dem Kriegsgeschehen heraushalten. Bis heute hat sich die rund 500 Jahre alte Neutralitätsstrategie - ungefähr seit Beginn der Neuzeit - für die Schweiz bewährt. Der einst armen Alpenrepublik gelang die Industriealisierung. Dank sozialem Frieden und politischer Stabilität konnte sich das Banken- und Versicherungswesen erfolgreich entwickeln. Heute ist die Schweiz eines der reichsten Länder der Welt und deswegen bis auf weiteres nur zu differenzierter Integration in die EU bereit. Die bewaffnete Neutralität ist Kern des schweizerischen Selbstverständnisses und hat sich bis heute bewährt.
Zusammen mit ihrem Reichtum gelang es dem Kleinstaat Schweiz auch wertvolles kulturelles Kapital zu akkumulieren. Der religiöse Gegensatz zwischen reformiert und katholisch fand einen friedlichen Ausgleich und kann auch als Vorbild für andere Länder der Welt dienen. Als Willensnation von vier Kulturen verbindet die Schweizer mehr als ihre Affinität mit der jeweiligen Kulturnation. Für die Religionsgeschichte von weltweiter Bedeutung sind die Reformatoren Calvin in Genf und Zwingli in Zürich geworden. Die Schweiz ist zum Quellgebiet einer eigenständigen Tradition des Protestantismus geworden. Insgesamt einer wohltuend liberaleren Variante.
Wie wir im nächsten Post sehen werden, ist es sehr häufig, dass es an Rändern von Imperien und in Löchern von Denkkollektiven zu herausragenden Innovationen gekommen ist. Heute liegt das europäische Zentrum der Erforschung des Innenlebens der Materie in Genf und eine der bedeutensten naturwissenschaftlich-technischen Universitäten Europas in Zürich, die ETH. Finanziert wohl auch durch den wirtschaftlichen Erfolg der Banken und Versicherungen vor Ort.
Zürich ist, dank seiner liberal-reformierten Tradition und genährt durch den Wohlstand der Kapitalakkumulationsmaschine der Banken und Versicherungen, zu einem Ort der Aufklärung geworden.
Neben dem Reichtum, den der Finanzplatz der Schweiz bringt, sind es aus globaler Sicht drei Vorteile, welche für eine polyzentrische Finanzarchitektur sprechen. Im Zeitalter der Hochleistungsrechner und des High Frequency Tradings nimmt eine polyzentrische Börsenstruktur etwas an häufig überhitzter Geschwindigkeit aus dem Handel. Zweitens kommt es durch die multipolare Netzwerkstruktur zu einer vertiefteren Informationsverarbeitung. Schliesslich ist ein Weltfinanzsystem, das über mehrere Finanzplätze abläuft im Falle eines terroristischen Angriffs oder Krieges weniger verwundbar. Dies sind drei Gründe aus globaler Sicht, welche in Zeiten der Konzentrierung der Kapitalmacht an der Wallstreet für den Fortbestand eines starken Finanzplatzes Zürich sprechen.
Von Zürich aus können neue transnationale Netzwerke von Handel und Geld, aber auch von Erkenntnissen und Ideen geknüpft werden, welche alte, nationale Grenzen sprengen. Es scheint mir, als wäre die Rolle der Regulierungslücke Schweiz, im Prozess der europäischen Integration das Element der Konkurrenz zu betonen. Konkurrenz ist das alte Leitmotiv der Evolution und des Kapitalismus. Es sorgt für fittere Akteure. Für die alten Dinosaurier und ehemaligen Erzfeinde Frankreich und Deutschland hingegen, sollte das Ziel bleiben, zu einem friedlicheren föderalistischen Herz in einem Europa differenzierter Integration zu werden. Wichtig wird weiterhin der Ausbau des europäischen Binnenmarktes sein und nach Ordo liberalem Leitbild eine wirksame Wettbewerbskontrolle. Diese könnte irgendwann auf die globale Ebene ausstrahlen und zur Entstehung einer Weltkartellbehörde im Rahmen der WTO führen.
Im Zeitalter der Globalisierung sind transnationale Verflechtungen von Demokratie und Wirtschaft angesagt. Einmal die Stärkung von transnationalen Konzernen und Finanzinstituten, anderseits der Ausbau transnationaler Demokratie im Sinne des opportunity states, welcher transnationale innovative Inklusion ermöglicht. Falls es zu einer zu einseitigen Globalisierung der Weltwirtschaft kommt, wird sich der Gegensatz zwischen international orientierten, gebildeten Gewinnern und national orientierten, ungebildeten Verlierern verschärfen. Dies birgt die Gefahr von wieder aufkeimendem Nationalismus in sich. Nationen sind Konstrukteure von mächtigen kollektiven Identitäten. Nationalismus ist mehr als der Narzissmus des kleinen Unterschieds. Mangelt es an individueller Anerkennung, versucht „man“ sich mit etwas grösserem zu identifizieren – der Nation. Ein solches Stimmungsgemenge kann in blutigen Kampf und Krieg umschlagen.
Ein Mittel gegen den Virus des Nationalismus ist eine multikulturelle Orientierung. Die Schweiz mit ihren vier Kulturen ist dafür ein hervorragendes Laboratorium. Ein Aspekt kulturellen Kapitals ist die komplexe "Feldstruktur" der Zeichen und Symbole. Hier geht es um Semiotik. Für eine Kulturfusion hat die schweizerische Ausformung der drei Hochkulturen Deutschlands, Frankreichs und Italiens, und nicht zu vergessen das Vulgärlatein Rumantsch, den Vorteil, dass die jeweilige Sprache etwas entschleunigt ist. Ein Vorteil, wenn ein kultureller Fusionsprozess in Gang gesetzt werden soll. Diese abstrakt-semiotische Argumentation meint nun nicht nur den konkreten Vorteil, welcher ein langsameres Sprechtempo Einsteigern in eine Fremdsprache bietet, sondern zielt vor allem auf die Ebene des Unbewussten, dessen Strukturierung und Codierung (frei nach Lacan).
Die gute "Feldstruktur" der schweizerischen Semiotik ist wertvolles, kulturelles Kapital. Sie kann aber auch einen Beitrag dazu leisten, das Gespenst des aggressiven Nationalismus anderswo etwas zu entschärfen. Als ein reiches Land mit alter liberaler, multikultureller Tradition kann sie zu einem Ort gelebter weltanschaulicher, religiöser und sexueller Toleranz mit Ausstrahlung weit über ihre eigenen Landesgrenzen hinaus werden. Dabei bereichern auch die Homosexuellen - als eine Pfauenfeder mehr der Evolution – das semiotische Feld pluraler Vielfalt.
Als kleines Land, auf der Höhe der modernen Neurowissenschaften und der Bewusstseinsphilosophie, kann die Schweiz helfen, dass sich entwickelnde Paradigma des modularen Denkens als neues Muster im Bereich der internationalen Beziehungen voranzutreiben. Es ist ein Denken, dass weniger von den alten griechisch-römischen Tempeln und ihren tragenden Säulen geprägt ist, als vielmehr von sich ausbreitenden, überlappenden und z.T. auch konkurrenzierenden transnationalen Netzwerken, welche mehr der Geographie der Probleme entsprechen [Alexandre Frey]. Damit sind Netzwerke verschiedenster Art gemeint: von der Wirtschaft, zur humanitären Hilfe, in den Bereich der Politik, bis hin zur Sicherheitspolitik.
Dadurch könnten vielleicht auch, neben dem zweiten Sitz der VN in Genf, etwas ausserhalb des angelsächsischen Hegemonialbereichs, wertvolle Muster für eine insgesamt dynamischere, aber auch
friedlichere Welt gelegt werden.
Der Traum einer friedlichen Weltrepublik einer geeinten Menschheit wird sich wahrscheinlich erst im 23. Jahrhundert verwirklichen lassen. Bis dann wird es jedoch noch zu zahlreichen Wirtschaftskrisen und internationalen Kriegen kommen. Ein Hauptgrund dafür liegt in der Ressourcenknappheit. Diese kann im globalen Massstab erst durch weiteren fundamentalen wissenschaftlich-technologischen Fortschritt überwunden werden. Vielleicht wird einmal so etwas wie ein Materiewandler möglich werden. Dazu werden wahrscheinlich aber enorme Energiemengen notwendig sein, welche vielleicht einmal Solarkollektoren in orbitaler Position um die Sonne liefern werden.
Weitere zuvor noch zu lösende Probleme sind, der Clash of Civilisations, der Kampf zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten Kulturen und die Globalisierung der Staatsform der Demokratie. Die polyarchischen Strukturen der Demokratie erlauben ein friedlicheres Zusammenleben.
Warum reicht aber eine Universalisierung der Demokratie nicht aus, um den Weltfrieden für immer zu sichern, wie dies Kant Ende des 18, Jahrhunderts gefordert hat? Dies liegt in der Konfliktnatur des Menschen begründet. Neben Liebe und Freundschaft ist er auch von einem Drang nach Anerkennung und von Gefühlen von Neid getrieben. Die zukünftige Entwicklung wird eine auf Messers Schneide sein, was den weiteren Einsatz der modernen Technik und Wissenschaft anbelangt. Vielleicht hat sich die Menschheit bereits vor Ende dieses Jahrhunderts selbst vernichtet. Wissenschaft und Technik zur Überwindung von Ressourcenknappheit und zur Verbesserung der Lebensqualität sind ein Zivilisationsgut. Missbraucht jedoch, können sie zu Waffen unsagbarer Grausamkeit werden.
Deswegen sind kollektive Massnahmen zur Vertrauensbildung und Friedenssicherung von grosser Bedeutung. Die OSCE ist ein Beispiel für solche Prozesse.
Die weitere Entwicklung von Wissenschaft und Technik, als Voraussetzung für die Möglichkeit der Entstehung einer Weltrepublik im 23. Jahrhundert setzt den innovativen Zusammenschluss immer grösserer Denk- und Forschungskollektive voraus.
Bis zum nächsten zivilisatorischen Quantensprung hin zu einer friedlicheren Weltrepublik - vielleicht verwirklicht im 23. Jahrhundert - bleibe ich meinem Heimatland der Schweiz treu. Bis dann, Ahoi Schweiz als grünes Auenland geschützt vor den heranstürmenden Horden Saurons!

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