Sonntag, 31. Januar 2010

Wege aus der Krise - Ein kommunikativer Versuch

In Krisenphasen fehlen Strukturen und Zukunftsvertrauen. Regeln des Denkens und Handelns verlieren ihre Selbstverständlichkeit. In der Krise ist Orientierung das entscheidende Problem. Nach der Anomie-Theorie sozialen Handelns sind gewisse Ziele dem Menschen durch internalisierte soziale Zwänge vorgegeben. Meistens werden die internalisierten gesellschaftlichen Ziele und Zwänge während der primären Sozialisation eingepflanzt, (d.h. v.a. während der Kindheit und Jugend). Sie können entsprechend auch ausserhalb dessen liegen, was ein bestimmter Mensch mit seinen Fähigkeiten und seinem Kapital erreichen kann. Sie verlangen aber trotzdem nach Erfüllung, unabhängig von den verfügbaren Ressourcen. Dadurch entsteht eine Spannung. Ziel-Mittel-Anomie ist die Folge, also die Spannung zwischen den Ansprüchen und den Chancen ihnen gerecht zu werden. Wenn eine Erfüllung nicht möglich ist, kann die Auflösung der vorher verpflichtenden Norm die Folge sein. Anomie, Normlosigkeit ist die Folge. Damit beginnt der Mensch seine Identität zu ändern.

Diese Änderung ist teils rational (rational in einem weiteren Sinne: "ökonomische Theorie der Kriminalität", "lohnt" sich jetzt kriminelles Handeln?). Aber hauptsächlich ist die Identität - neben der primären Sozialisation - von den kommunikativen Beziehungen und dem sozialen Rückhalt geprägt. Subkulturen, kriminelle Millieus bieten "Lernchancen". Um die Ziel-Mittel Spannung abzubauen, kann kriminelles Handeln die Folge sein. So die extrovertierte Antwort fremdschädigenden Verhaltens. Die introvertierte Antworte, diese Spannung abzubauen, ist selbstschädigendes Verhalten. Der Unterschied extrovertiert/ introvertiert findet sich auch bei den beiden grundlegenden Typen von Gewissen. Das extrovertierte Gewissen ist ein mit persönlichen Schwächen belastetes Gewissen. Schuld sind immer die Anderen. Ein schwaches oder defektes Über-Ich ist die Folge eines autoritären Erziehungsstils, bei dem ein einsehbarer Sinn der Massnahmen fehlte. Es sind die sogenannten straforientierten Techniken der Disziplin. Das introvertierte Gewissen ist das schuldgeplagte Gewissen. Man weist die Schuld sich selber zu. Ein starkes oder starres Über-Ich ist die Folge der Angst des Kindes Liebe und Zuneigung zu verlieren. Hier wird Disziplin durch liebesorientiertes Verhalten herbeigeführt. Risikofaktoren für beide Formen von sozial abweichendem Verhalten sind: Vereinzelung, Chancenlosigkeit und Sinnlosigkeit.

Einfache Ziel-Anomie, d.h. Ziellosigkeit ist jedoch der "normale" Zustand bei fundamentaler Unsicherheit im Krisenkontext, wenn die Ziele und Normen ihre Verbindlichkeit verloren haben.
In Krisen wird die individuelle Rationalität überfordert. Für fundamentales Lernen ist die prozedurale Rationalität kommunikativen Handelns wichtig. Gespräche haben gerade dann eine besonders hohe Chance, vernünftig geführt zu werden. Verstehens- und verständigungsorientierte Kommunikation sind jetzt wichtig. Wegen der fundamentalen Unsicherheit, von der Krise hervorgerufen, können die Menschen gar nicht anders. Alte konsensuale Realitätsdefinitionen werden überschritten, auf der Suche nach neuen Antworten. Auf dem Weg zu einer neuen Weltsicht, sind die Akteure sehr gesprächs- und kommunikationsbedürftig. In interaktiver Kommunikation wird die Selbst- und Weltdeutung gefestigt. Mit der Rekonstruktion kognitiver Regelsysteme rekonstruieren wir Voraussetzungen zur erneuten Festigung des Selbstbildes. Aber die kognitiven Regelsysteme, die Regeln der Selektion, Klassifikation und Interpretation von Informationen, sind nicht Gegenstand individuellen rationalen Handelns. Sie sind Ergebnis interaktiver Komunikation. So werden sie intersubjektiv verfügbar.

Es soll dabei aber nicht ausgeschlossen werden, dass manche der überzeugensten Konzepte das Werk einsamer Geister sein können. Die, wie wir zu sagen pflegen, ihrer Zeit weit voraus sind. Charismatische Persönlichkeiten - Vordenker und Vorreiter - können im Krisenkontext zu orientierungsstiftenden Instanzen werden, die neues Denken vertreten und durchsetzen, ohne gross Rückhalt im Denken der Anderen zu brauchen. Um jedoch Vertauen und Vertrautheit in das neue Denken zu gewinnen, ist auch für sie das Wechselgespräch notwendig. Ein lernträchtiges Gespräch bezieht sich zunächst mit Vorteil auf gemeinsam geteilte Erfahrungen. Diese erleichtern das Verstehen. Es bilden sich an gemeinsamen Erfahrungen gemeinsame Weltdeutungen aus. Diese sind auf Erfahrung bezogen, können jedoch weit über sie hinausgehen.

Wenn wir im Krisenkontext unser Denken erneuern müssen, sind wir auf verständigungsorientiertes Reden angewiesen. Dabei sind aber die Möglichkeiten strategischen Handelns oder strategischer Rede verschlossen, weil eine Absage an vertraute Weltbilder und Ideologien mit fundamentaler Unsicherheit einhergeht. Wichtig sind nun die Prozesse interaktiver Kommunnikation. Das einzige motivierende Ziel ist jetzt Anteil zu gewinnen an kollektivem, fundamentalem Lernen. Diese Lernchance ist ein individueller Anreiz um an diesem Prozess teilzunehem, auch wenn dann das Ergebnis für alle zugänglich sein wird. Häufig ist aber auch nur schon das beherrschen der entsprechenden Fachsprache Anreiz genug. Denn das neue Denken wird zwar intersubjektiv generiert, aber Kommunikationsgemeinschaften bedienen sich häufig einer Fachsprache. Diese ist zwar für Aussenstehende ein Verständigungshinderniss, ermöglicht aber den "Eingeweihten" eine schnellere und differenziertere Kommunikation. Ein erstes Ziel kann also sein: "Cracking the Code!" Sobald sich die kognitiven Regeln für massgebliche Akteure und Gruppen wieder geklärt haben, wird strategisches Reden und Handeln wieder möglich, d.h. man spricht dies und tut das. Und auch noch auf eine wichtige Unterscheidung sei hingewiesen: Vertrauen bedeutet noch nicht Optimismus. Man kann zwar Vertrauen in sein neues Denken haben, aber es kann sein, dass man gerade darum Pessimist ist. Allgemein ausgedrückt, fördert Vertauen in sein Denken aber auch die Entschlusskraft. Neues Denken, als Ergebnis von verstehens- und verständigungsorientierter Kommunikation, ist der Weg aus einer Krise, in der das alte Denken an Vertrautheit verloren hat. Der Verlust der Gültigkeit des Alten im Krisenkontext führt zu einem Zusammenbruch des Zukunftsvertrauens. Erst wenn eine neue Weltsicht gefunden worden ist, kann die Krise überwunden werden. Es ist eine neue, optimistische Zukunftsbeurteilung, welche die gesellschaftliche Aktivität auf's Neue belebt. Neue Koordinationsmechanismen können nun wieder wirken. Ausschlaggebend ist die Klärung der Zukunftsperspektive, genauer der kognitiven Grundlagen solcher Perspektiven, und die Restauration des Vertrauens, das man in diese Grundlagen setzt. Der Aufschwung kommt dann sozusagen von selbst.

Den kollektiven Lernprozess wollen wir uns aber noch einmal genauer anschauen. Grösser gewordene Unsicherheiten rufen förmlich nach fundamentalem Lernen. Dieses ist jedoch kein einfacher Vorgang. Verständigungsbereitschaft ist nicht immer einfach gegeben. Bei wachsenden Unsicherheiten klammern sich anderseits häufig viele Menschen erst recht in grosser Zahl an die alten Denkgewohnheiten. Dabei kommt es zu einer Solidarisierung mit Gleichgesinnten und zu einer scharfen Abgrenzung gegenüber denjenigen, denen Verantwortung für die Unsicherheit zugeschrieben wird und die als Bedrohung für die alte Ordnung gesehen werden. Oft werden dann aber häufig Ursache (Krise) und Effekt (neues Denken) verwechselt. In welche Richtung die Menschen bei wachsender Unsicherheit getrieben werden - entschlossenes Festhalten an allem, was ihnen vertraut ist (Fundamentalismus) oder ein sich Öffnen für neue Gedanken (Fortschritt) - ist von der Kommunikationsstruktur und den damit verbundenen Kommunikationschancen abhängig.

Die Unterscheidung von vier Gruppen von Akteuren ist wichtig:
a) Die sozialen Aufsteiger und erfolgreichen Migranten treten in neue kommunikative Beziehungen ein. Soweit sie im angestammten sozialen Beziehungsnetz nicht verhaftet bleiben, fehlt ihnen eine dauerhafte Bestätigung ihrer Person, ihrer Normen, ihres Denken. Sie sind für fundamentales Lernen prädisponiert.
b) Die vernetzten Gewinner sind nicht nur Verwalter von gewinnstiftendem Kapital, sondern auch von wohlgeordneten Kontakten. Sie sind vor identitätsverletzenden Anfechtungen zunächst gefeit. Sie sind weniger geneigt zum grundsätzlichen Lernen, als vielmehr dazu, im Verband mit anderen, gemäss geltenden Regeln Einfluss auf die Welt zu nehmen. Erst wenn dies lange nicht mehr gelingt, wenn die Unsicherheit zu gross geworden ist, dramatische politische Entwicklungen drohen und anomisches (d.h. normauflösendes) Verhalten bis in ihre unmittelbare Umgebung vordringt, werden sie, reaktiv zu grossen Schritten fundamentalen Lernens herausgefordert.
c) Vernetzte Verlierer sind da kommunikativ eingebunden, politisch aktivierbar. Dabei erfolgt die Mobilisierung innerhalb bestehender Organisationen. Zu den Verlierern gehören die relativ Priviligierten. Sie haben in der Krise viel verloren. Aber dank unversehrter Bestände an exklusiven sozialen Beziehungen sind sie handlungs- und politikfähig geblieben. Selbstbestätigung erfahren sie, wie die konservativen, vernetzten Gewinner in angestammten sozialen Beziehungen. Durch Rückschläge finanzieller Art gezwungen, jedoch immer noch eingebettet in Beziehungen persönlichen Vertrauens, sollten sie noch relativ einfach für fundamentales Lernen gewonnen werden können. Auch wenn bei ihnen fundamentalistische Reflexe schon eher vorkommen.
d) Die isolierten Verlierer sind am gefährdedsten. Mit dem Verlust ihres Kapitals (Realkapital, Humankapital und eben Sozialkapital) verlieren sie auch noch den Rückhalt bei den Anderen. Verletzt in ihrer Identität, im Zustand anomischer Spannung werden sie trotz ihrer Isolierung zu einem Problem für andere. Durch ihr anomisches Verhalten werden Normen und Denken der Anderen um ihre Selbstverständlichkeit gebracht. Infolge des Verlusts der vertrauten kognitiven Regelsysteme im Krisenkontext, werden Normen nicht einfach nur gebrochen, sondern sie verfügen gar nicht mehr über solche.

Wie kann nun also ein Weg aus der Krise gefunden werden? - Krisenphasen sind v.a. Phasen grosser Offenheit. Aber keiner weiss mehr, warum der eine oder der andere Weg gewählt werden sollte? Die einzelnen Menschen fassen Vertauen in das neue Denken weil sie in soziale Kollektive eintreten und dort bei anderen Rückhalt finden. Im verstehns- und verständigungsorientierten Gespräch können nun neue Orientierung und neue Ziele gefunden werden. Soziales Lernen ist so das Ergebniss eines komplexen gesellschaftlichen Kommunikationsprozesses. Neues, konsensuales Denken bedeutet aber nicht, dass nun alle das Gleiche denken müssen. Die moderne-postmoderne Gesellschaft bleibt pluralistisch. Wichtig ist nur eine genügend grosse Überlappung der verschiedenen Weltbilder.

Die ökonomische Version dieser hier entwickelten Theorie kann bei Hansjörg Siegenthaler.1993. Regelvertrauen, Prosperität und Krisen - Die Ungleichmässigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens. J.C.B. Mohr, Tübingen nachgelesen werden.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.