Mittwoch, 8. Dezember 2010

"The Road"

Und die Erde war wüst und leer

Apokalypse in allen Kinos: Noch nie gab es so viele Endzeitfilme. Was John Hillcoats "The Road" über unsere Ängste sagt. Von Evelyn Finger, Die ZEIT, 07. Oktober 2010, Nr. 41

Die Welt nach dem Ende der Welt hat keinen Himmel mehr, und das Unkraut, durch das die zwei letzten Menschen waten, zerfällt um sie herum zu Staub. Unter aschgrauen Wolken wandern sie durch eine Ödnis voll toter Bäume und zerborstener Autobrücken. Der Asphalt der Straßen ist eine schwärende Wunde. An Strommasten hängen zerfetzte Kabel. Ewig schon sind Vater und Sohn unterwegs, so müde vom Hunger, zermürbt von Kälte, dass sie manchmal wünschten, ihre Herzen wären aus Stein. Und immer die Angst, doch noch andere Überlebende zu treffen, die vielleicht auf der Jagd nach Menschenfleisch sind. Was ist das Schlimmste am Weltuntergang? Ihn zu überleben? Nein. Ihn nicht allein zu überleben.
Denn die Apokalypse, das ist der Mensch selbst. So lautet die Botschaft von John Hillcoats Film The Road – Die Straße , nach dem gleichnamigen Roman von Cormac McCarthy. Er handelt von dem verzweifelten Versuch eines Vaters, sein Kind vor Kannibalen zu beschützen und sich in der Wolfszeit etwas wie Würde zu bewahren. Hillcoats Endzeitdrama ist nun schon das fünfte innerhalb eines knappen Jahres. So viel Weltuntergang war nie. Früher ließen uns die Kinoregisseure noch Luft holen zwischen Armageddon und The Day After Tomorrow. Aber jetzt setzen sie uns unter Dauerfeuer: Erst kam die Sintflut (2012), dann der totale Krieg der Welten (Avatar), der Luftangriff der Erzengel (Legion), der blutspritzende Wettlauf um das letzte Exemplar der Bibel (The Book of Eli) und schließlich die Reise der lebenden Toten durchs Kannibalenreich.
Wovor haben wir solche Angst? Langsam wird es Zeit, zu fragen, welchem Lebensgefühl die apokalyptischen Bilder entspringen und auf welche kollektiven Sehnsüchte die wenigen tröstlichen Pointen zielen. Immerhin handelt es sich hier um Offenbarungsfilme für ein Millionenpublikum. Warum sehen wir die Zukunft so schwarz? Glauben wir neuerdings wieder an einen strafenden Gott und sein Jüngstes Gericht? An Erlösung glauben wir jedenfalls nicht. Denn im Endzeitkino der Gegenwart gibt es keine Erretteten, nur Verdammte. Und jede Zuflucht erweist sich als Täuschung. Einmal finden Vater und Sohn auf ihrem Streifzug durch verlassene Häuser eins, das halbwegs heil ist. Sie stöbern in der Küche nach Essbarem, entdecken die Kellerklappe und brechen sie auf. Doch die Vorräte, die sie dort unten finden, sind entsetzlich: Wimmernd stürzen nackte Menschen aus dem Dunkel, wo sie als lebendes Futter eingesperrt waren.
Nach dem Jüngsten Gericht sollte das Reich Gottes kommen. Fällt aber aus. Hier ist nicht nur die Hölle, sondern der innerste Kreis der Hoffnungslosigkeit. Die unsichtbare Inschrift am Höllentor lautet wie schon in Dantes Inferno: »Durch mich geht man hinein zum ewigen Schmerze. Lasst, die ihr eintretet, alle Hoffnung fahren!« Mühsam nur entkommen unsere Helden den Krallen der verzweifelten Opfer und schlagen die Kellerklappe zu. Dann fliehen sie, als wäre der Teufel hinter ihnen her.
Nach christlicher Vorstellung bestand die Apokalypse aus zwei Teilen. Erst Vernichtung, dann Erlösung. Erst Gerichtstag, dann Reich Gottes. Leider fehlt in den modernen Unheilsprophetien der zweite Teil. Das Verheißene wird von der Endzeit verschluckt. Es gibt keine Zeit nach der Zeit. Einige zwar haben den Jüngsten Tag überstanden, doch das nützt ihnen nichts, denn er bricht immer von Neuem an. Warum? Weil die Menschen vom Glauben an sich selbst abgefallen sind. »Wenn Gott uns Menschlichkeit geschenkt hat«, heißt es in The Road, »haben wir sie längst verloren.«
Tatsächlich kommt man mit Mitleid oder ähnlich altmodischen Tugenden in der letzten Welt nicht weiter. Eine andere Szene. Da treffen Vater und Sohn einen Greis, der noch erschöpfter ist als sie. Um seine Füße sind Lumpen gewickelt, in sein verwittertes Gesicht haben sich die Furchen jahrelanger Schlaflosigkeit gegraben. So sieht einer aus, der nie mehr Obdach findet. Aber er ist mehr als ein Obdachloser, nämlich moralischer Prüfstein für alle Vorbeikommenden. Können wir ihm helfen?, fragt das Kind. – Nein!, antwortet der Vater. – Können wir wirklich nicht? – Nein. Er wird sterben. Wir können, was wir haben, nicht mit ihm teilen, sonst sterben wir auch.
So ziehen sie weiter. Die gesenkten Köpfe der beiden zeigen die Scham über ihre Entschuldigung, die sie selber nicht gelten lassen. Der Zuschauer aber muss sich fragen, welche Entschuldigungen er hat. Wo er Hilfe verweigert, obwohl er sie sich leisten könnte. Der Alte aus The Road verkörpert das schlechte Gewissen einer Gesellschaft, die das Gebot der Nächstenliebe nie ganz umgesetzt hat. Damit sind wohl wir gemeint. Die Verlorenheit der Filmfiguren, ihre transzendentale Obdachlosigkeit ist unsere. Später im Wald, nachdem Vater und Sohn die letzte rostige Konservendose geleert haben, fragt das Kind: Sind wir noch die Guten? – Ja. Wir sind die Guten. – Werden wir es immer sein? – Immer. – Okay.
Wie schwer es für die letzten Menschen ist, gut zu sein. Wie leicht dagegen für uns. Dass heutige Kinoregisseure uns diese uralte Moral nicht mit der Keule predigen, sondern lakonisch, actionreich und manchmal sogar mit Witz, darin liegt ihre missionarische Kraft. In Book of Eli gibt es eine Szene, da erzählt Denzel Washington in der Rolle des letzten Gerechten einem jungen Mädchen von der Bibel. An diese berühmte Schwarte kann sich ja kaum noch einer erinnern, jetzt, dreißig Jahre nach Armageddon. Eli, der Hüter der allerletzten Bibel und Besitzer eines antiken iPods, gilt als Irrer, denn er rettet fremde Menschen vor marodierenden Banden. Als wollte er beweisen, wer sich dem Gesetz der Straße unterwirft, dem wird sich der Geist Gottes nie offenbaren. Dem bleibt die Heilige Schrift für immer verschlossen. Eli betet oft und rezitiert gern Poetisches wie: »Ich bin die Blume des Lichts im Feld der Finsternis.« Wow, sagt das Mädchen, ist das aus deinem Buch? Nein, sagt Eli, das ist von Johnny Cash.
Aber zurück zur gefühlten Gefahr. Was ist momentan unsere größte Angst? Terror, Atomkrieg, Klimakatastrophe? Nein. Da geben die Studien deutscher Versicherungskonzerne dieselbe Auskunft wie die Filme aus Amerika: Armut. Also die Kehrseite dessen, was wir schon kennen: Erfolgsstreben, Apologie sinnlosen Konkurrenzgehabes, Verteilungskampf aller gegen alle. Das erleben wir, verdichtet auf eine einzige karge Erzählung, in The Road. Anschließend erscheint uns das biblische Versprechen, dass der Kampf der Guten gegen die Bösen zugunsten der Guten entschieden werden wird, als noch frommeres Ammenmärchen. Und gerade deshalb trifft uns die neue zynische Apokalyptik-ohne-Heil mitten ins Herz.
Trotzdem predigt das Endzeitkino die frohe Botschaft: Seid menschlich! Ganz am Ende aber, wo die Straße aufhört und die Filme fast aus sind, wird die Menschheit immer ein bisschen gerettet. Eli erreicht die Küste. Vater und Sohn sehen das Meer. Das kitschige Happy End ist zugleich auch die Botschaft. Seid menschlich! Rettet die Welt! Dahin geht offenbar des Publikums sentimentale Sehnsucht. Es muss nur bedenken, dass die Welt ein ziemlicher Brocken ist, man rettet sie nicht allein. Es reicht nicht das Credo von Eli, für andere mehr zu tun als für sich selbst. Man braucht auch Schützenhilfe. Man muss die Schützen prüfen. Mit den Worten des Kindes: Bist du einer von den Guten? Woher weiß ich, dass du einer von den Guten bist?
The Road, Filmbesprechung

"The Road",
 offizieller Trailer

"Die Strasse", Buchrezension des gleichnamigen Romans von Cormac McCarthy in der ZEIT

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Bleibt die Frage, warum ich dieser Film-Rezension soviel Platz in meinem Blog einräume? - Zunächst einmal, weil der Film sehr eindrücklich ist! Und einerseits glaube ich, dass Menschen Geschichten brauchen, um unserer Welt Sinn zu verleihen. Anderseits sind Mythen und Legenden (seien es die alten Mythen der Heiligen Schriften oder neue Geschichten über Gut und Böse) wichtig, da Menschen in ihnen existenzielle Gefühle leben können. Und um mit diesen existenziellen Ängsten besser klar zu kommen, sollte man sich vielleicht von Zeit zu Zeit angstmachenden Situationen stellen. Denn Angst baut sich ab, wenn man sie eine Zeit lang ausgehalten hat. Die Angst wird dann quasi "verlernt".

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