Mittwoch, 6. April 2011

Hüter seelischer Gesundheit und "Sinn-Unternehmertum"

  • Alltäglichkeit:
"Je wichtiger uns dabei das ist, was wir zu tun haben, je mehr Bedeutung wir den zu lösenden Aufgaben zumessen, umso geringer ist die Gefahr, vor die Abgründe menschlicher Existenz geführt zu werden. Die Unruhe des Alltags ist paradoxerweise seinsberuhigend. Dass Zeiten, in denen die alltägliche Beanspruchung wegfällt, schnell "unheimlich" werden können, zeigt sich an Erfahrungen der Leere in der Freizeit. Die alltäglichen Aufgaben, Sorgen und Nöte bilden eine Art Schutzwall gegen die Angst, wie sie aus der Erfahrung der Ungesichertheit des eigenen Seins aufsteigen kann." (S. 197)

  • gesunder Menschenverstand:
"In der Fähigkeit den gesunden Menschenverstand walten zu lassen, bekundet sich nicht nur die Durchschnittsmentalität, sondern der Schatz an allgemein und seit langem bewährten lebenspraktischen Erfahrungen. Je weniger jemand in ihm verankert ist, um so schutzloser ist er der Gefahr ausgesetzt, von der philosophischen Erfahrung seiner nackten Existenz überfordert zu werden und ihr zu erliegen." (S. 199)

  • kollektive Sinndeutungen:
"Sinnsprüche werden auf Situationen angewandt, die sich mit den Regeln des gesunden Menschenverstandes nicht mehr angehen lassen, weil sie den Rahmen des Gewohnten sprengen und deshalb selbst jene Menschen, die nicht leicht aus der Fassung zu bringen sind, rat- beziehungsweise hilflos werden lassen. Auch diese Sinnsprüche geben allgemein bewährten Erfahrungen Ausdruck und bezwecken eine Seinsberuhigung. Vorgegeben wird, dass alles, was jetzt nicht in Ordnung ist, mit der Zeit tragbar wird - kurz: dass alles, was jetzt nicht in Ordnung ist, mit der Zeit in Ordnung kommen wird. Auf  dieser Sinnthese basiert der gesunde Menschenverstand; wer über ihn verfügt, lässt sich erst gar nicht auf ein sinn- und nutzloses Grübeln über die letzten Dinge ein, sondern begnügt sich mit der Annahme, dass alles irgendwie seinen Sinn hat, auch wenn  eben vieles, was wir tun, sinnlos und/oder zum Scheitern verurteilt scheint.
Kollektive Sinndeutungen sind oft alte Wissensbestände religiöser und quasireligiöser Art, welche sich explizit auf existenzielle Grundfragen beziehen. Der gesunde Menschenverstand findet in diesem tradierten Sinnwissen seine notwendige Ergänzung; seine "Standhaftigkeit" rührt also nicht nur daher, dass er die allgemeine Erfahrung repräsentiert, sondern dass er auch in alten Traditionen wurzelt." (S. 200f.)

"Elaborierte Sinndeutungen, welche die Welt und das eigene Sein betreffen, werden dann nötig, wenn jenseits blosser Alltagsprobleme ausserordentliche Ereignisse zu bewältigen sind, die als Schicksalsschläge Einzelne oder eine Gruppe beziehungsweise ein Volk (z.B. das "Atomunglück in Japan") treffen und sie ganz aus den bisher haltgebenden Bindungen herausreissen, dabei aber zugleich die grundsätzliche "Nichtigkeit" menschlichen Seins an den Tag bringen. Sie machen darum sprachlos, weil das Ereignis, mag man auch die Ursachen kennen und Schuldige finden, als solches unfassbar bleibt und sich jeder Einordnung in einen Sinnzusammenhang widersetzt. So vor das nackte, weil sinn-bare, ja sinnwidrige "Dass es so ist" gestellt, sinken unter Umständen alle bisher bedeutungsvollen Bezüge zu Menschen und Dingen in sich zusammen. Umgekehrt verlangt die "Verarbeitung" eines Schicksalsschlages, ihn zu guter Letzt doch wieder in irgendeinen Sinnzusammenhang einzufügen. Dafür braucht es den Rückgriff auf die in jedem kulturellen Traditionsbestand vorrätigen kollektiven Sinndeutungen. Dank ihnen wird es möglich, überhaupt über das Geschehene zu sprechen, das Leid mit Anderen zu teilen und so weiter. Es gehört zu diesen Deutungsangeboten, dass sie von einer grundsätzlichen Sinnhaftigkeit allen Geschehens ausgehen, selbst wenn sie im einzelnen Falle verborgen bleibt. Ihre Überzeugungskraft beruht immer auch darauf, dass es sich bei ihnen um ein seit langem und von unzähligen Menschen geteiltes kollektives Credo handelt, an dem sich schon Generationen aufgerichtet haben." (S. 201f.)
Und provozierend formuliert Holzhey-Kunz: "Nicht der Wahrheitsanspruch, sondern die seinsberuhigende Funktion solcher Sinndeutungen steht also in anthropologischer Perspektive zur Debatte. Das kollektive Sinnwissen täuscht so gesehen Sinn vor, um die Seinslast tragbar und das Leben lebbar zu machen." Und engagiert macht sie mit Heidegger klar, dass: "Der Botschaft von einem  universalen Sinn allen Seins die Grundstimmung der "Angst" entgegen tritt, die dem Menschen gerade offenbart, dass Sein nicht einfach in Sinn aufgehoben ist. In der Angst macht jeder die Erfahrung, dass Sein nicht einfach in Sinn aufgehoben ist. In der Angst macht jeder die Erfahrung, dass die sinnhaft gedeutete Welt in sich zusammenbricht und er mit der puren Faktizität seines In-der-Welt-seins (das blosse "Dass er ist und zu sein hat") konfrontiert wird. Die Radikalität von Heideggers Analyse der Angst zeigt sich darin, dass sie davon ausgeht, die Angsterfahrung enthüllt die Wahrheit über das eigene Sein! Also gilt nicht, dass das Dasein in Wahrheit in einer sinnhaften Welt aufgehoben - "zuhause" - ist und die Angst blosss einen pathologischen Seelenzustand repräsentiert, in welchem der Betroffene seinen "natürlichen Weltglauben" verliert und sich irrtümlich im Unzuhause wähnt; es gilt vielmehr: Der gesunde Menschenverstand mitsamt den tradierten Sinndeutungen von Welt und Mensch täuschen dem Dasein im Dienste eines seinsberuhigten Lebensvollzuges Welt als sinngedeutetes Zuhause vor - eine Täuschung, die in der Angst zusammenbricht. Die "Flucht in das Man" ist Flucht vor der Angst, ist Flucht hinein in die Illusion einer letztlich sinnverbürgenden und dadurch Halt gebenden Welt." (S. 202)

Holzhey-Kunz hat mit Sartre auch dargelegt, dass unsere Identität - unser Ich - bei weitem nicht etwas so gesichertes ist, wie wir normalerweise annehemen. Wen wir nicht wissen woher wir kommen, noch wohin wir gehen und auch nicht warum wir überhaupt hier sind, dann verwundert es auch nicht, dass auch unsere Identität unklar ist.

"Das Wissen darum, ohne inneren Halt zu sein, macht Angst. Sartre nimmt den Heideggerschen Begriff der Angst auf, um mit ihm die Reaktion auf jene Bedrohung zu beschreiben, die in der Unmöglichkeit liegt, eine abschliessende Antwort auf das "wer bin ich?" zu finden, in der die Identität des Selbst definitv gesichert wäre. Und weil der Mensch konstitutiv an diesem Mangel an Identität leidet, wird er aus diesem Leiden heraus für alles aufgeschlossen, was in Analogie zur Einheit und Festigkeit der Dinge eine feste Verankerung menschlichen Seins zu erreichen verspricht." (S. 163)
Holzhey-Kunz legt das Identitätsproblem auch an einem einprägsamen Beispiel zum Thema "Ruhmsucht" dar: "Dass jemand bei der Arbeit stets nur auf die Steigerung seines Ruhms bezogen ist, hat insofern einen ontologischen Hintersinn, als sein Selbstverständnis von der Angst beherrscht sein dürfte, er könnte grundsätzlich gar nicht wahrgenommen werden und für niemanden wichtig sein, was sein Leben wertlos machen würde. Und um dieser Angst Herr zu werden, muss er all sein Tun dem Ziel unterordnen, Beachtung zu gewinnen." (S. 196)

Das Problem seelischen Leidens bringt Holzhey-Kunz dann so auf den Punkt: "Eine Neurose, ja auch eine Psychose hat ihren Ursprung in einer übermässigen Hellhörigkeit für die Zumutungen, das eigene Leben leben und das heisst führen zu müssen, ohne durch irgendeine äussere oder innere Instanz (andere Menschen, Gott, die Stimme des Gewissens, die eigenen Gefühle) sicher geleitet zu sein. Diese Zumutung wird erkannt, aber zugleich als inakzeptabel erlebt." Sloterdijk spricht in diesem Zusammenhang von einer "metaphysischen Immunschwäche" (S. 211)

"Seelische Gesundheit hat mit diesem einzig lebbaren Nein zu tun, das darin besteht, den Nicht-Sinn in gemeinsam gestifteten Sinn aufzuheben". (S. 204) Ein klares Postulat für das, was ich ein "Sinn-Unternehmertum" nennen möchte!

Vor dem Hintergrund dieser Weltsicht wird auch verständlich, warum ein bekannter amerikanischer Soziologe - wie Neil Fligstein - betont, dass Sinn- und Identitätsstiftung die zentralen Faktoren für gelungene Kooperation sind (vgl. z.B. "Social Skill and the Theory of the Fields"). Es ist also nicht so, dass immer nur Egoismus und Konkurrenz gelten. Vielmehr sind wir Mangelwesen Mensch sehr dankbar, wenn wir an gemeinsamen identiäts- und sinnstiftenden Unternehmungen teilhaben können. Bei Heidegger und Sartre wird ein "Seinsmangel" der Welt konstatiert. In Fligsteins Soziologie sind es die sozialen Talente ("social skills"), welche für soziale Ordnung entscheidend sind. Wenn es uns im Allgemeinen an Sinn und Identität fehlt, dann ist nur zu gut verständlich, warum diejenigen Leute soziale Leader werden, welche solchen Sinn und solche Identität stiften können. Die SVP ist z.B. eine politische Gruppierung in der Schweiz, die sehr erfolgreich die Karte der "Schweizer Identität" ausspielt, zusammen mit dem "Schweizersein" als Sinnprojekt. Aber natürlich gibt es neben dem simplizistischen Nationalismus auch andere, deutlich umfassendere und inklusivere Sinnprojekte, wie z.B. ein Weltbürger zu werden und offen zu sein, für die Weisheit der verschiedenen Religionen der Welt, etc. Eine multikulturelle Identität scheint mir dabei die treffendste Antwort auf die Herausforderungen unserer zusammenwachsenden Weltgesellschaft und den Reichtum an kultureller Diversität dieser Welt zu sein.

Die Grundlage für diesen Post ist das Buch "Das Subjekt in der Kur - Über die Bedingungen psychoanalytischer Psychotherapie", von Alice Holzhey-Kunz (Passagen Verlag, Wien, 2002). Auch alle Zitate stammen aus diesem Buch.

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