Dienstag, 26. Juli 2011

Entdämonisierung durch Psychotherapie

  • Das Archaische Weltbild (der Religion) ist vor allem ein Bild: Ich glaube also, kann es aber nicht wissenschaftlich beweisen, dass die allermeisten Phänomene, die wir "dämonisch" bezeichnen, von uns selbst durch intensive Projektionen erzeugt werden
  • Aufgeklärte Psychotherapie: Wogegen, Wofür? - Die Psychotherapie ist gegen alle krankmachenden Unterdrückungen und Entfremdungen. Es geht darum Ohnmacht zu überwinden. Psychotherapie steht für die Verwandlung von Besessenen in psychisch Kranke, die man behandeln kann. Als Kind der Aufklärung geht es bei Psychotherapie um wissenschaftlich geplante Behandlung von psychisch bedingten Leidenszuständen.
  • Aufgeklärte Psychotherapie: Anstelle altehrwürdiger Mythen eine Wissenschaft der erklärten Zuversicht. Diese trockenen Worte haben ein ungeheures Gewicht, denn sie besagen nicht weniger als, dass man dem Dämon, wie ihn das Archaische Weltbild kannte, wenigstens einigermassen Herr zu werden vermag, wenn man nur die dazu nötige "Wissenschaft" beherrscht. Wenn jemand seine Projektionen zurücknehmen kann, dann steht ihm die Energie wieder zur Verfügung, die er in den Aufbau der Projektionen investiert hat. Ausgehend von unserer heutigen wissenschaftlichen Position aus, werden alle geheimnisvoll-mächtigen, mythisch-magischen Praktiken überwunden. Schamanische Heilungsverfahren und Geistheilung, - magisch-abergläubische Praktiken aller Art - sollen durch Wissenschaft geheilt werden. Man kann Therapie erlernen. Sie ist also kein geniales Glücksspiel mit Zufallstreffern, sondern geschieht "mit wissenschaftlich-psychotherapeutischen Methoden". Das Ziel sind bestehende Symptome zu mildern oder zu beseitigen, gestörte Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern, um Reifung, Entwicklung und Gesundheit des Behandelten zu fördern.
  • Aufgeklärte Psychotherapie in der Praxis: Möglichst ganzheitlich und Schritt für Schritt wird versucht, dass vermutete Krankheitsgeschehen immer klarer und griffiger herauszuarbeiten. Reifungsschritte sind notwendig. Das Offenkundigwerden der faktischen, existenziellen Wahrheit in all iheren Formen ist ein notwendiger und heilsamer Prozess. Das Ausdruckswesen Mensch sucht nach diesen Wahrheitsgestalten. Die existenzielle Wahrheit muss gesucht werden.
  • Aufgeklärte Psychotherapie sucht nach Befreiung von den Dämonen des Archaischen Weltbildes! - Wissenschaftliche, aufgeklärte Psychotherapie muss an die Stelle des archaischen Exorzismus tretten.
  • Jeder Mensch bleibt sich aber selbst ein Mysterium. Ein abgründiges, niemals voll einzuholendes Geheimnis.
  • "Geben ist seliger denn nehmen." Erfolgreich behandelte Patienten geben gerne weiter, was sie selbst an Gutem empfangen haben.
  • Der kirchliche Exorzismus: Jeder Exorzismus gehört zum Archaischen Weltbild. Er steht im Zentrum der kultischen Entdämonisierung. Er treibt die bösen Geister aus, denn sie wurden für Krankheit und Unglück aller Art verantwortlich gemacht. Der rituelle Exorzismus ist aber jenes Phänomen, das der Psychotherapie völlig entgegen steht.
  • Verfinsterungen: Wie viel "Licht" benötigt ein Mensch, um dabei psychisch gesund bleiben zu können? Und wieviel "Finsternis" vermag er auszuhalten? Aufgeklärte Psychotherapie muss zum Ausgleich für den Verlust an grossartigen Verursachermythen und Visionen genau überprüfen, wer oder was nun all die Faktoren zusammenbündelt, die sich so negativ auf Patienten auswirken. Wichtig ist dabei, dass gegen seinen Willen man niemanden behandeln kann und auch nicht darf.
  • Der Scham behaftete Bereich der Sexualität scheint die erste Adresse für Dämonisierungen zu sein.
  • Der mächtig gewordene Dämon quält seine Erzeuger. Mit Goethes "Zauberlehrling": "Herr, die Not ist gross! Die ich rief, die Geister, werd' ich nun nicht los."
  • Wie den Exorzismus überwinden? - Am besten fängt man an, verschiedene religiöse Mythenbildungen zu vergleichen. Der Relativismus wirkt entmythologisiernd. Im besten Fall, kann so der Exorzismus in einer komparativen Schublade entsorgt werden.
  • Was tun Dämonen nach dem Archaischen Weltbild? - Das Archaische Weltbild beginnt mit der Offenbarung des göttlichen Bereichs und dem Kontakt zu ihm, das Aufgeklärte hingegen mit dem methodischen Zweifel, der wissenschaftlich ausgeräumt werden muss (Kritischer Rationalismus). Archaische Formulierung: Dämonen kämpfen gegen Gott und die Schöpfung. Aufgeklärt: Sie verwirren die Motivation der Menschen, die Wahrheit überhaupt. Sie sabotieren das Bemühen "in der Wahrheit zu verbleiben", den eigenen Einsichten zu folgen. Sie bemächtigen sich des Gruppenkonsenses und des Gesellschaftskonsenses über die wirkliche Wirklichkeit dadurch, dass sie versuchen eine gezielte Umstimmung in der das Leben fördernden Atmosphäre herbeizuführen. Ziel ist eine emotionale Störung der Einsicht oder auch eine Abfolge scheinbar logischer Gedanken so nahezulegen, dass die wirkliche Wirklichkeit gestört, verfälscht, als trügerisch, tötend oder gar als nicht existent dargestellt wird. Der Vorgang der tatsächlichen Entdämonisierung, der Befreiung von seelischen Leidenszuständen, Einengungen und Depotenzierungen des Menschen kann fast den Charakter einer kriegerischen Auseinandersetzung um das seelische Überleben des Patienten annehmen. Der Dämon scheint mehr als nur ein Abwehrmechanismus zu sein.
  • Verhüllen - Enthüllen: Psychotherapie kann - vom Glauben aus gesehen - als Endämonisierungsvorgang verstanden werden. Der Glaube - von der Psychotherapie aus gesehen - erscheint dort, wo er nachvollziehbar ist, sehr oft als therapeutisch relevantes Angebot einer neuen, zukünftigen Existenzweise intensiveren, befreiteren Lebens. Dabei bleibt der Glaube letztlich wegen seines transzendenten Bezugs für Psychotherapie und Wissenschaft unerreichbar. Der religiöse Blick auf die Wirklichkeit ist trotzdem häufig eher einer psychotisch-kranken Wahrnehmung zum Verwechseln ähnlich. Aber es gibt keine wirkliche Alternative zu ihm. Und schliesslich kann es doch nicht sein, dass sich so viele irren sollten?
  • Wo sind die Engelsflügel hingekommen? Schliesslich geht es um die gegenseitige Berührung von Therapie und Glauben (inklusive der verschiedenen Religionen). Wichtig ist, dass eine persönlich ganz bedeutsame Entwicklung eines Menschen nur mit Hilfe eines Mitmenschen geschehen kann. Der Therapeut übernimmt die Rolle des Engels, ist aber trotzdem nicht mehr als ein Mensch.
  • Aufgeklärte Psychotherapie als "Wahrheitsagentur": In der Therapie kommt die Wahrheit zutage, sie wird sozusagen immer griffiger, immer wahrer und prägnanter. Es kommt zu "existenzieller Betroffenheit". Das ist auch ein Tor zu jenem Bereich der menschlichen Innerlichkeit, den man mit "Tiefe" zu bezeichnen pflegt. Die Therapie bleibt aber immer bei der konkreten, faktischen Wahrheit der Angelegenheit und bei der inneren Wahrheit. Sie ermuntert die Patienten alles, was für sie wichtig ist, zur Sprache kommen zu lassen.
  • Psychotherapie als hoffnungsvolles Bemühen: Wenn das Resultat eines Geschehens zum Auslöschen eines bestehenden "lebendigen" Wesens führen würde, so sprechen wir von einem negativen oder abtötenden Prozess oder von "Thanatophilie" (Liebe zum Tod): Alles was es gibt, muss ausgelöscht und umgebracht werden. Irgendwann einmal wird diese Arbeit vollendet sein! Im umgekehrten Fall sprechen wir von einem lebendigen, lebensbejahenden Prozess oder von "Biophilie" (Liebe zum Leben). Alles, was es gibt, ist allein schon deswegen zu bejahen, weil es existiert. Und dieses Existieren muss behütet werden. Die Grundreaktion auf diese Situation des Daseins ist Dankbarkeit.
  • Was passiert, wenn die notwendige Therapie einfach verweigert wird? Wenn Einsicht auch kollektiv vermieden wird? Die Grossgruppen, wie Nationen, galten als der eigentliche Ursprung aller Kleingruppen und jeder individuellen Persönlichkeit.
  • Jeder Zweifel spaltet die Kraft des Willens. Es besteht immer die Möglichkeit, einander zu täuschen oder zu manipulieren und auch zu verraten. Von der Ideologie über die Religion in die Psychiatrie.
  • Psychotische Dekompensation ist die Bezeichnung für einen Zusammenbruch der tragenden psychischen Strukturen eines Menschen. (Dekompensation, weil die Belastung nicht mehr durch das psychische System kompensiert werden kann). Sie konnten sich einfach in ihrem Berufsalltag nicht mehr zurechtfinden. Sie fühlten sich von Emotionen, Wahnvorstellungen und Bedrohungen überwältigt.
  • Die Aufklärung sieht in den Religionen immer Erfindungen, Täuschungen, Wunsch und Drohphantasien, bestenfalls Halluzinationen und schlechtestenfalls psychotische Phänomene. Die Freiheit der Selbstbestimmung in der Therapieszene widerspricht der krichlichen Forderung nach Glaubens- und Sittengehorsam. Aber eine "aufgeklärte Religion" sollte trotzdem möglich sein.
  • Wichtig ist die "Lichtung der dunklen Welt" durch wirkliche Aufklärung als das Feuer, das unsere Zeit erreicht hat, zu erhalten und weiterzureichen. So dass schliesslich tatsächlich eine allgemeine, weltweite "Erleuchtung" um sich zu greifen beginnen kann.
  • Hoffnug worauf? - Wenn wir der europäisch-christlichen Tradition folgen, die auch zu den unverzichtbaren Grundlagen des Aufgeklärten Weltbildes gehört, dreht es sich nicht nur um eine additive Verlängerung unserer Lebensspanne. Oder ähnlich mit "Höher! Weiter! Länger! Gesünder! Fitter!" bezeichnete Vorgänge. Es geht v.a. um die bewusste Verwandlung unseres bisherigen Verhältnisses zum Kosmos, dem wir entstammen. Es geht um unser Verhältnis zu den Mitmenschen und Mitgeschöpfen. In der Bibel wird es als der "neue Himmel und die neue Erde", die "wunderbare Erneuerung des wunderbar Erschaffenen" bezeichnet. Dies hat nichts mit "Beendigung", sondern mit "Vollendung" und "Vollkommenheit" und "Ganzheit" zu tun. Trotz Aufklärung und Wissenschaft eilen wir von Wunder zu Wunder. Wir beginnen mit dem Wunder, dass es uns überhaupt gibt, eilen weiter über das Wunder, dass wir einander ansprechen und uns einander zuwenden können, über das Wunder der technischen Beherrschung der Welt bis zum Wunder der "Vergeistigung" und "Vergöttlichung", in dem sich alle Zeit vollendet - ein "ewiger" Schlussakkord sozusagen.
  • Die Bewegung der Psychotherapie hat weit über den ursprünglichen Ansatz hinaus wie ein Katalysator zwischen den beiden grossen Weltbildentwürfen, dem Archaischen und dem Aufgeklärten Weltbild, vermittelt. Sie hat milliardenfach menschlichem Leid eine Perspektive gegeben, wenn sie auch nicht alle Leidenden auf einmal zu heilen oder auch nur zu bessern vermocht hat. Vielleicht ist das aber der Anfang einer umfassenden Vision, die uns alle zu erfassen beginnt. Natürlich sind das fromme Worte. Darin liegt aber die Hoffnung, dass wir als Menschheit vor einem Quantensprung an Erfahrung und Entwicklung stehen könnten und dass das Gute sich eben überall hin wie von selbst verströmt.
Richard Picker. 2009. Exorzismus war gestern - Entdämonisierung durch Psychotherapie. Kösel Verlag, München.

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