Dienstag, 2. August 2011

Evolution der Kooperation

Die bekannte Urformel der Evolution besteht aus Mutation und Selektion – genetische Vielfalt führt dazu, dass die am besten Angepassten überleben und sich bevorzugt fortpflanzen. Deshalb hielt man die Geschichte des Lebens lange für einen von Eigennutz geprägten Überlebenskampf: Doch jetzt zeichnet sich immer mehr ab, wie wichtig die Bedeutung der Kooperation ist. Dank Computersimulationen, Laborversuchen und Primatenforschung ist das Thema ins Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit getreten.
Vor kurzem hat der österreichische Biomathematiker Martin Nowak von der amerikanischen Harvard University in einem Buch* gezeigt, dass sich Zusammenarbeit fast überall in der Natur findet – bei Pflanzen, Tieren, Mikroben und sogar den Urmolekülen des Lebens. Und auch bei Menschen. Kooperation sei, so Nowak, die Triebfeder der Evolution – ohne sie wäre die Erde nie über eine Ursuppe hinausgekommen. Nowak gehört zu den ersten Forschern, die das Problem auf ein sicheres mathematisches Fundament stellen wollen. Kooperation, so sein Schluss, ist kein Kuriosum, sondern eine grundlegende Eigenschaft aller Evolution.

Wie du mir, so ich dir
Im Zentrum seiner Überlegung steht das Gefangenendilemma, das klassische Problem der Spieltheorie: Zwei Gefangene, die gemeinsam eine Bank ausgeraubt haben, werden getrennt verhört. Der Kriminalbeamte macht jedem ein Angebot. Bezichtigt der eine seinen Komplizen des Verbrechens, während der andere schweigt, muss er nur ein Jahr hinter Gitter, der Compagnon aber sechs. Schweigen beide, erhalten sie eine Strafe von zwei Jahren. Sagen beide gegeneinander aus, erhalten sie vier Jahre Gefängnis. Ganz egal also, wie sich der andere verhält, hat jeder der Verbrecher einen Vorteil davon, auszusagen. So gehen beide wohl für vier Jahre ins Gefängnis. Die für beide beste Lösung, zwei Jahre Haft, können sie nur erreichen, wenn sie sich darauf verlassen können, dass auch der andere schweigt. Auch im richtigen Leben stehen Menschen regelmässig vor der Frage, ob sie durch Kooperation ein Risiko eingehen sollen.
Man trifft viele Personen nicht wieder. Warum also helfen? Weil es zu einer wichtigen Ressource verhilft: der Reputation.
Nowak arbeitet in seinem Buch mehrere Kooperationsstrategien der Natur aus. Das klassische Prinzip ist das der Gegenseitigkeit: «Wie du mir, so ich dir.» Wenn du meinen Rücken kratzt, denkt sich der Schimpanse, kratze ich deinen. In grösseren Gruppen gibt es indes ein Problem: Man trifft viele Personen oft nicht wieder. Warum also helfen? Weil es Zugang zu einer kostbaren Ressource schafft: Reputation. Wer anderen hilft, verschafft sich einen guten Ruf – und erhöht damit die Chance, dass künftig andere mit ihm zusammenarbeiten.

Die Gene weitergeben
Ein dritter Kooperationsbeschleuniger nach Gegenseitigkeit und Reputation ist räumliche Nähe, das gute Verhältnis zum Nachbarn. Wer in einem kooperativen Umfeld lebt, dessen Überlebenschancen steigen, weil seine Gruppe im Wettbewerb mit anderen eher besteht. Das bringt Nowak auf den vierten Mechanismus: Gruppenselektion. Unabhängig von den ersten drei Punkten zahlt es sich für alle Mitglieder aus, das Ziel der eigenen Gruppe immer im Auge zu haben. Ein extremes Beispiel ist das Verhalten von Soldaten im Krieg. Aber es zeigt schon, dass eine mögliche Kooperation grossen Aufwand erfordert, den Zusammenhalt der Gruppe zu betonen und den Einzelnen davon abzuhalten, seinen Vorteil doch allein zu suchen.
Mit diesen Thesen hat Nowak in der Fachwelt für Aufregung gesorgt. Während Kooperation aufgrund von Gegenseitigkeit, der Macht des guten Rufes und Nachbarschaftshilfe unter Experten als Evolutionsfaktor kaum bezweifelt wird, gilt Gruppenselektion als überwundene Theorie des frühen 20. Jahrhunderts. Wer erklären will, wie Gruppen überleben, könne das immer mit der natürlichen Auslese von Individuen erklären, betonen Nowaks Kritiker. Der Vermehrungserfolg lasse sich schliesslich danach bemessen, wie oft Erbanlagen an die nächste Generation weitergegeben würden. Und da sei es die beste Strategie, sich und Verwandten zu helfen.

Hilfe vom Ameisenforscher
Die Fähigkeit, Nachwuchs zu hinterlassen, nennen die Evolutionsforscher Fitness. Und meist wird diese genetische Gesamtfitness mit der Verwandtenselektion in einem Atemzug genannt. Der britische Evolutionsbiologe John Burdon Haldane soll es 1955 in einem Pub einmal so formuliert haben: «Ich würde mein Leben für zwei Brüder oder acht Cousins geben.» Allerdings hat er später eingeräumt, zweimal Menschen vor dem Ertrinken gerettet zu haben. Er hätte aber vor der Entscheidung, ins Wasser zu springen, keine Zeit gehabt, noch zu berechnen, wie er mit ihnen verwandt sei.
Nowak hält das Konzept der Vetternwirtschaft für einen wichtigen Mechanismus sozialer Evolution, aber nicht für den einzigen. Kooperative Gruppen hätten immer bessere Chancen im Wettbewerb, egal ob und wie verwandt ihre Mitglieder sind. Ihr Verhalten sei mathematisch auch viel eleganter zu formulieren. Der Biomathematiker steht mit seiner Ansicht nicht allein. Auch der Ameisenforscher und Nestor der Soziobiologie, Edward Wilson, hegt seit Jahren Zweifel an der Verwandtenselektion, obwohl er diese Anfang der Siebzigerjahre zu popularisieren half. Wilson mangelt es an empirischen Beweisen. Er hat mit der Harvard-Mathematikerin Corina Tarnita und Nowak vor einem Jahr im Wissenschaftsjournal «Nature» einen Aufsatz veröffentlicht, in dem sie das bisherige Standardmodell für falsch erklären.
Kooperative Gruppen hätten immer bessere Chancen im Wettbewerb, egal ob und wie verwandt ihre Mitglieder sind, schreibt Nowak.
So liesse sich zum Beispiel auch ohne Verwandtschaft erklären, wie Ameisenstaaten entstehen, bei denen alle Arbeiterinnen auf Nachwuchs verzichten. Demnach muss die Gründerpopulation noch fruchtbarer Tiere nicht miteinander verwandt sein, solange nur einige zufällig ein Gen haben, das sie in der Nähe eines Nests verweilen und für weitere Generationen sorgen lässt. Diese Gruppe kann weniger solidarische Ameisenvölker ausstechen und sich durch Kooperation stärker vermehren. Die Verwandtschaft ihrer Mitglieder wäre dann Folge, nicht Ursache des Sozialverhaltens.

Entsetzte Reaktion der Gegner
Nowaks Publikation löste unter vielen Naturwissenschaftlern Entsetzen aus. Vor wenigen Wochen publizierten die Gegner einen Artikel in «Nature», der von 137 Forschern unterzeichnet wurde. Sie werfen Nowak und seinen Mitstreitern vor, die Fachliteratur nicht genau zu kennen, das Prinzip der Verwandtenselektion missverstanden zu haben und mathematisch viel zu restriktive Annahmen zu machen. Richard Dawkins, der 1976 den Klassiker «Das egoistische Gen» veröffentlicht hat, sagt abschätzig: «Ich habe noch niemanden ausser Nowak und Wilson getroffen, der das ernst nimmt.»
Kooperative Gemeinschaften laufen jedoch immer Gefahr, von Egoisten unterwandert zu werden – das illustriert der Krebs. Der Körper ist eine hochdifferenzierte Zellgemeinschaft, in der bisweilen mutierte Zellen auf eigene Rechnung wuchern – bis zum Tod des Wirts. Deshalb ist Nowaks frohe Botschaft getrübt. Er zeigt in seinen Simulationen zwar, dass Nächstenliebe langfristig am erfolgreichsten ist. Jedoch kommt er zu dem Schluss: «Wir können nicht erwarten, dass Kooperation ewig währt. Aber wir können zumindest sicherstellen, dass Kooperation über längere Perioden Bestand hat – und nur gelegentlich scheitert.»
* Martin Nowak mit Roger Highfield: Supercooperators. Canongate, 2011, nur in Englisch erhältlich, ca. 28 Fr.
"Stark dank Vetternwirtschaft", von Hubertus Breuer, Tagesanzeiger.ch/Newsnetz, 31.7.2011

Die Evolution der Kooperation ist ein äusserst faszinierendes Gebiet. Ich bin diesen Fragen auch in meiner Dissertation schon im Jahre 2000 nachgegangen. Wen es interessiert, dem sei - als Einführung in das Thema - der erste Teil meiner Diss mit dem Titel: "Cooperation, Social Capital and Social Integration" und dort besonders das erste Kapitel "Social Dilemmas and the Problem of Cooperation" empfohlen. Meine Diss kann kostenlos unter A Reformed European Model (Grin Verlag) gelesen werden.
Der im Artikel erwähnte Harvard-Professor für Mathematik und Biologie Martin Nowak leitet dort das Zentrum Program for Evolutionary Dynamics.

Der Wunsch nach  Freiheit, Würde und Verantwortung ist evolutionär nützlich. D.h. dass es vielleicht kurzfristig für einzelne Individuen sinnvoll sein mag, sich in totalitären Systemen anzupassen, um Repressionen zu vermeiden. Auf lange Sicht dient es dem Fortkommen der Menschen aber mehr, wenn sie sich ethisch korrekt verhalten. Menschen mit hohen moralischen Ansprüchen sind für die Gesellschaft wichtiger als Menschen mti einer hohen Anpassungsfähigkeit. Allerdings vergessen Menschen in totalitären Systemen ihren Wunsch nach Freiheit nicht vollkommen. Sie versetzen ihn lediglich ein eine Art "Schlafmodus". Sobald der Unterdrückungsmechanismus Schwächen zeigt, wird das Freiheitsstreben neue aktiviert.(Es gibt Wissenschaftler, die sogar glauben, dass das Freiheitsstreben genetisch codiert sein könnte.) Wenn die Massen merken, dass sie keine Angst mehr vor Polizei, Militär und Politik haben müssen, gerät das bisherige Machtsystem komplett aus den Fugen. Das funktioniert wie bei einer Lawine!

Haben wir ein Freiheits-Gen?, Michael Kneissler, PM Magazin - Welt des Wissens, Nr. 08, 2011, S.48-53.

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