Sonntag, 20. September 2009

Liberale Theologie und das Reich Gottes

1. Liberale Theologie

"Liberale Theologie bedeutet, den Glauben an das Evangelium, dass Gott Liebe, Vergebung und Grund der Freiheit ist, als den Anfang eines durch diese Werte bestimmtes Verständnisses menschlicher Existenz zu erkennen. In der Tradition liberaler Theologie führt vom Glauben an das Evangelium kein direkter Weg zu gegenständlichen Aussagen über Gott und sein Offenbarungshandeln. Glauben ist überhaupt kein Wissen, weder über Gott noch über sein Handeln in der Welt, sondern ein Vertrauen, das zur Kraftquelle in der Bewältigung des Lebens wird. Mit dem Gott des Evangeliums lässt sich nicht die Welt erklären, sehr wohl aber eine fundierende Daseinsgewissheit und zielbewusste Lebensorientierung gewinnen. Dieses liberaltheologische Credo befreit die Theologie von den unversöhnlichen Konflikten mit der Wissenschaft.
Liberale Frömmigkeit kann heute in einer Spiritualität lebenspraktisch werden, die ein inhaltlich eher unbestimmtes Transzendenzbewusstsein ausbildet, sich aber weithin doch im Tradierungszusammenhang des freilich undogmatisch verstandenen Christentums bewegt. Entscheidend für liberale Frömmigkeit ist, dass der Glaubensausdruck frei gelassen wird und variabel bleibt, dass er sich nicht nach biblischen, dogmatischen, kirchlichen oder lehrmässigen Bestimmungen richten muss, sondern klar der persönlichen Gewissheit, der Erfahrung und dem Engagement der Glaubenden nachgeordnet bleibt. In Fragen des Glaubens muss man die eigene Einsicht nirgends unterdrücken, denn Gott selbst ist Inbegriff und Quelle der Wahrheit. Spiritualität ist eine Sinneinstellung, eine Offenheit für die Präsenz des Göttlichen, die als Lebensbereicherung erfahren wird.
Liberale Theologie ermutigt den Glauben jedoch dazu, zu seinen Zweifeln zu stehen. Die Zweifel gehören zum Glauben, eben weil dieser kein Wissen ist und nicht zu einem Wissen werden kann. Aber um für Sinnzusammenhänge kommunizierbare Vorstellungen und Sprache zu gewinnen, brauchen wir die Parabeln, die Beispiel- und Gleichnisgeschichten der Bibel, die Metaphern und Symbole, die die Überlieferungen des Christentums geschaffen haben. Auch sie aber gehören auf die Seite des Glaubensausdrucks, nicht des Glaubensgrundes. Dieser wird in der persönlichen Transzendenzbeziehung oder auch, konkreter, in der persönlichen Beziehung zu Jesus und dem Gott in ihm gefunden."


2. Das Reich Gottes

Am Ende der Bibel wird das kommende Reich Gottes (nach dem "Jüngsten Gericht") versprochen. Wenn Gott eine neue Erde und einen neuen Himmel geschaffen hat, wird er im himmlischen Jerusalem wieder unter den Menschen leben.
"Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron sass, sprach: Seht, ich mache alles neu." (Offb. 21,3-5).
Aber auch eine evolutionäre Sichtweise ist möglich. Gott ist nicht von Anfang an fertig und vollkommen, sondern muss sich auch noch entwickeln, wachsen und werden (Kurt Leese). Wenn die Zeit für das "Reich Gottes" gekommen ist, haben sich Gott und/oder die Menschheit vollentwickelt und die biblische Verkündigung kann in Erfüllung gehen.
Anders sieht es Paul Tillich: "Die universale Grundlage der Religion ist die Erfahrung des Heiligen innerhalb des Endlichen. Das Unbedingt wird im Bedingten manifest, aber das Bedingte kann Gott als Unbedingten nicht offenbaren, ohne ihn zu verzerren. Diese Dialektik ist nach Tillich der Motor der Religionsgeschichte." Leese weist aber darauf hin, dass nicht ein dogmatisierter Christus (Kreuzestheologie), sondern die durch Jesus verkündete und gelebte Liebe als normativer Massstab für die Religionsgeschichte gilt. Diese christliche Humanität wird dabei am besten überkonfessionell und interkulturell geöffnet. Zu hoffen ist auch, dass es nicht dabei bleibt, dass nur der Protestantismus den Mut aufgebracht hat, die eigenen Glaubensquellen und Voraussetzungen kritisch zu untersuchen, koste es was es wolle. Wobei dies aber nur für die fortschrittliche, liberale Strömung im Protestantismus gilt. Daneben gab und gibt es immer auch die konservative, bibelgläubige Mehrheit. Zu hoffen beibt aber, dass jede tiefe Religiosität denkend wird und jedes wahrhaft tiefe Denken religiös (Albert Schweitzer). Dieser liberale Flügel des Protestantismus ist nicht nur durch die Reformation, sondern auch durch die Aufklärung bestimmt. Glaube und Vernunft gehen zusammen. Aber wie Schweitzer feinsinnig analysiert, ist der freie Protestantismus in der Minderheit. Er setzt nämlich selbständiges denken voraus. Und dies ist nicht mit Sicherheitsbedürfnissen einerseits und geistiger Bequemlichkeit anderseits zu vereinbaren. Für einen wahrhaft suchenden Menschen gehören Glaubenszweifel als Durchgang zu tieferer Wahrheitserkenntnis dazu. Was viele Menschen zu überfordern scheint!
Das "Reich Gottes" gilt es auch schon jetzt von uns auf unserer Erde zu verwirklichen, als Reich der Liebe und der Gerechtigkeit. Schweitzer gibt dabei aber auch zu denken:
"Auch für den neuzeitlich Glaubenden bedeutet das Werden des Reiches Gottes auf Erden nicht alles. Auch er schaut von dieser Welt und von der Zeitlichkeit auf die Ewigkeit aus und auf das, was nach dem Tode sein wird. Er weiss aber, dass wir dies Gott anheimgestellt lassen müssen und dass wir in diesem Dasein nach der Seligkeit trachten müssen, dass es in uns und in der Welt Reich Gottes werde, aus der uns Gott, wenn wir uns in ihr bewährt haben, zur zukünftigen eingehen lässt. Das Erwarten des Reiches muss für uns zum Wollen des Verwirklichens desselben in dieser Welt werden. Gerade dadurch werden wir Christen im ursprünglichen Sinn. Die Erlösung besteht darin, dass Reich Gottes in uns sei und Reich Gottes in der Welt wirke." Die Kraft zur Ethik ist die Dankbarkeit für das Beschenktsein durch Gott. Gott als der Wille der Liebe, als sich schenkende und zugleich uns fordernde Liebe.

Quelle: Werner Zager (Hrsg.). 2009. "Liberales Christentum - Perspektiven für das 21. Jahrhundert", Neukirchener Verlag.


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