Dienstag, 29. Dezember 2009

Das "Tao der Religion"

Mit dem "Tao der Religion" meine ich, dass in allem Wandel der religiösen Weltbilder, im Laufe der Evolution von Gott, doch das Gute und eine göttliche Stimme hindurchscheinen. Gandhi hat dies einmal sehr schön auf den Punkt gebracht, und seine Formulierung erinnert mich dabei an taoistische Sinnsprüche:
"Es ist möglich die Existenz Gottes in gewisser Weise durch die Vernunft zu erkennen. Es gibt eine Ordnung im Universum, ein unveränderliches Gesetz beherrscht alles. Inmitten des Todes dauert das Leben fort, inmitten der Unwahrheit dauert die Wahrheit fort, inmitten des Unrechts dauert das Recht fort, in aller Dunkelheit dauert das Licht fort. Während alles, was mich umgibt, ewigem Wechsel unterworfen ist, ist zugleich eine lebendige Kraft am Werk, die sich nicht verändert."
Dieses Gandhi-Zitat taucht nicht zum ersten Mal in diesem Blog auf (vgl. "Elemente des Weltbildes von Gandhi" vom 29.4.09; ). Und das ha t auch seinen Grund. Bringt es doch die religiöse Grundwahrheit auf den Punkt: das radikale Grundvertrauen in die Welt, in die Schöpfung - bei allem Wandel! Die Gutheit des Ganzen. Und wie die verschiedenen Ausformulierungen - je nach konkreter religiöser Weltsicht - auch immer heissen.
Dieser religiöse Glaube hat mich schon lange begleitet. So fand ich, dass er auch in gewissen evolutiven Vorstellungen der Soziologie zum Vorschein kommt. Anstelle von gnadenlosem Sozialdarwinismus und einem rein funktionalistischen Verständnis von Soziologie, geht die "konfliktive Evolutionstheorie" von Volker Bornschier davon aus, dass längerfristig der entscheidende Vorteil in der Entwicklung von Gesellschaften ein höheres Mass an Legitimität ist. Ungleichheiten müssen begründet sein. Wer mehr sein will und mehr haben will, muss auch mehr können und sich mehr anstrengen. Aber wie das "konfliktiv" andeutet, geht die Entwicklung von Gesellschaften nicht konfliktfrei. Konflikte treten immer wieder auf, aber längerfristig gewinnen die Guten! Beziehungsweise was unter gegebenen historischen Bedingungen maximal möglich ist an sozialem Frieden und sozialer Gerechtigkeit. Bornschier zeigt dann in seinem Klassiker "Westliche Gesellschaft im Wandel" (1988), wie bei der Entstehung der modernen Welt und des Kapitalismus im historischen Evolutionsprozess, die legitimeren Gesellschaften es waren, die gewonnen haben. Intrinsische Motivation, nicht äusserer Zwang, ist was eine Gesellschaft zusammenhält und eine Wirtschaft zum florieren bringt. Neben der historischen Studie, untersuchte Bornschier diesen Vorgang auch empirisch. Für die Westlichen Gesellschaften hat er Zahlenmaterial zusammengestellt, dass zeigt, wie dieser Effekt schon im 19. Jahrhundert quantitativ nachgewiesen werden kann. Schliesslich untersucht er den Zusammenhang mit Hilfe eines multiplen Regressionsmodells für die Nachkriegszeit, bis ca. Anfang der 80er Jahre. In meiner Dissertation (2000) habe ich das Modell verfeinert und weiterentwickelt. Für die Zeit von 1990 bis 1998 konnte ich zeigen, dass ein Mehr an Sozialkapital, d.h. an Vertrauen, Gemeinschaftssinn, Toleranz und sozialer Gerechtigkeit zu höherem Wirtschaftswachstum führte. Kontrolliert wurde bei dieser Analyse der Einfluss des Entwicklungsstandes und der Ausbau des Produktivapparates (physisches Kapital) und der Bildung (Humankapital).
Ich erzähle dies alles, weil für mich der "rote Faden" dabei ist, wie das "Gute" längerfristig - gegen alle Widerstände - am gewinnen ist! So hat sich im 20. Jahrhundert gezeigt, dass die Vertreter der Freiheit sich längerfristig gegen inhumane Diktaturen (Nazis und realexistierender Sozialismus) durchsetzen konnten. Dies könnte - spieltheoretisch formuliert - auch bedeuten, dass sich immer mehr Win-Win-Beziehungen durchsetzen. Auf deutsch: Handel, die wechselseitige Kooperation, bei der beide Seiten gewinnen, ist die erfolgreiche Strategie! In meiner Dissertation gehe ich diesem Phänomen im 1. Kapitel "Social Dilemmas and the Problem of Cooperation" nach (S. 10-20). [Übrigens kann meine Dissertation wieder kostenlos im Netz gelesen werden: A Reformed European Model.]
Mit grossem Interesse habe ich nun eine Buchbesprechung von H. Allen Orr über das Buch "The Evolution of God", von Robert Wright, in der New York Review of Books gelesen (Can Science Explain Religion? Nr. 1, 14. Januar, 2010; ). Robert Wright ist ein Spezialist für die Anwendung spieltheoretischen Denkens auf Geschichte und Religionsgeschichte. Der Geschichtsprozess ist getrieben vom Geist des Handels, von wechselseitig vorteilhafter Kooperation. Dies ist eine klar optimistischere Sichtweise, als eine macht- und ausbeutungsorientierte Sichtweise (vgl. Nietzsche und Marx). In "The Evolution of God" (2009) wird auch die Entwicklung des Gottesbildes als Anpassung an dieseitige Bedingungen, wie Ökonomie, Politik und Krieg, gesehen. Es wird eine materialistische Sichtweise verfolgt. Nichtsdestotrotz führt für Wright die Entwicklung der Nicht-Nullsummen-Dynamik der Religionsgeschichte dazu, dass sich immer mehr Toleranz und moralische Inklusion auf der Welt verbreiten, zusammen mit immer positiveren Gottesbildern!
Wright will diese Entwicklung nun spirituell und religiös verstehen.
"If history naturally carries human consciousness toward moral enlightenment, however slowly and fitfully, that would be evidence that there's some point to it all. At least, it would be more evidence than the alternative... To the extent that "god" grows, that is evidence - maybe not massive evidence, but some evidence - of higher purpose. Which raises this question: If "god" indeed grows, and grows with stubborn persistence, does that mean we can start thinking about taking the quotation marks off?"
Und: "In the great divide of current thought - between those, including the Abrahamics, who see a higher purpose, a transcendent source of meaning, and those, like [Steven] Weinberg, [and the other so-called New Atheists Daniel Dennett and Richard Dawkins], who don't - the manifest existence of a moral order comes down clearly on one side."
Der Rezensent H. Allen Orr meint nun, dass eine materialistische Theorie der Moralentwicklung noch kein Beweis für die Existenz von Transzendentem ist. Dem kann nicht widersprochen werden. Aber die Existenz von positiver Moralentwicklung und positiveren Gottesbildern im Laufe der Geschichte kann doch als ein Grund der Hoffnung angesehen werden. Und Wright sieht korrekt, dass es sich beim "höheren Sinn" nur um einen Hinweis und eine Intuition handelt. Aber doch soviel!
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Wright argumentiert auch, dass die ganze biologische und kulturelle Evolution auf Erden positiv, d.h. als Hinweis auf einen höheren Sinn verstanden werden sollte. Wenn man sich die einzelnen Entwicklungsschritte von der ersten lebenden Zelle, über mehrzellige Organismen, hin zu Menschen mit moralischem Empfinden und der Fähigkeit zur Hervorbringung von High-Technologie, vor dem inneren Auge verdeutlicht, ist das schon eine gewaltige Entwicklung! Dies ist ja genau die - inzwischen wohl etwas vertraute - Argumentationslogik der "Evolutionären Spiritualität", wie sie in diesem Blog entwickelt wird. Und in diesem Zusammenhang möchte ich noch auf ein anderes Buch hinweisen: "Integral Consciousness and the Future of Evolution" (2007) von Steve McIntosh. Er zeigt im Detail die Entwicklung von menschlichem Bewusstsein und menschlicher Kultur auf. Dabei weist er darauf hin, dass diese Entwicklung stufenweise vor sich geht, und dass sich die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins und die Entwicklung der menschlichen Kultur in vielem entsprechen. Für mich faszinierend zu lesen war sein 3. Kapitel, in dem er die spiralförmige, dialektische Höherentwicklung der menschlichen Kultur aufzeigt. Ihm gelingt es - meiner Meinung nach - dabei sehr gut die jeweils zentralen Einflussfaktoren aufzuzeigen. Vom Archaischen, über die Stufe der Stammesgesellschaften, zum Kriegerbewusstsein, dann aber weiter zum traditionalistischen Bewusstsein, dann die Moderne und schliesslich die Postmoderne. Die Entwicklung hört dann aber noch nicht auf. Durch starke Vernetzung der Menschen und einer neuen ganzheitlichen Sicht entsteht schliesslich die Stufe des Integralen Bewusstseins (so zumindest meine Lesart, im Anschluss an Teilhard de Chardins "Noosphäre"). Der Fortschrittsgedanke und die Gerichtetheit dieses Entwicklungsprozesses sind die beiden Hauptelemente einer evolutionären Spiritualität. Sie sind der Grund für Hoffnung. Kritisch muss aber angefügt werden, was soll nach der integralen Stufe kommen? McIntosh lässt hier das Feld offen und spricht von einem post-integralem Bewusstsein. Was aber soll das sein? - Damit möchte ich auch nochmals auf eines meiner ersten Postings von diesem Jahr zurückkommen: Ewiger Fortschritt, Erscheinung Gottes, Apokalypse, oder ...???
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In diesem Blog-Posting erwähnt Bücher und Links:

Wright, Robert. 2009. The Evolution of God. Little, Brown.
Orr, Allen H. Can Science Explain Religion? The New York Review of Books. Vol. 57, No. 1, January 14, 2010.

McIntosh, Steve. 2007. Integral Consciousness and the Future of Evolution - How the Integral Worldview Is Transforming Politics, Culture and Spirituality. Paragon House, St. Paul.
Bornschier, Volker. 1996. Western Society in Transition. Transaction Publishers, New Brunswick. (Habe nur noch seine überarbeitete englische Ausgabe zu Hause.)

Leicht, Michael. 2000. A Reformed European Model - Social Capital as Competitive Advantage. Grin Verlag.

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Das unbegreifliche Wunder der Existenz der Welt, der Anderen und unser selbst.
Die Möglichkeit Wahrheit zu erkennen und die Möglichkeit Gutes und Schönes zu erleben.
Das ist das grosse Geschenk des Staunens!

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