„Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unserer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“
Steht in Nostra Aetate (über das Verhältnis der katholischen Kirche zu den nichtchristlichen Religionen) noch, dass die verschiedenen Religionen "doch nicht selten einen Strahl jener Wahrheit erkennen lassen, die alle Menschen erleuchtet." So wird dieser Lichtstrahl - im Zeichen liberaler Religion - zum Licht, das die "Kathedrale der Welt" erleuchtet! Ein Licht, das durch die verschieden gezeichneten und gefärbten Fenster (den verschiedenen Religionen) in die Kathedrale hereinscheint, die unsere Welt ist.
Implizit ist der Vorstellung von der "Kathedrale der Welt", dass durch Kombination unterschiedlicher Vorstellungen vom Absoluten ein volleres Verständnis der Wahrheit möglich wird. Auch wenn eingestanden werden muss, dass z.B. Alleinheit oder allmächtiger Gott sich als Vorstellung (teilweise) ausschliessen. Aber der Preis von religiösem Pluralismus ist, dass wir den Anspruch auf letzte Welterklärung aufgeben müssen. Aber es werden wohl auch sonst nur Fundamentalisten und Fanatiker glauben, dass sie durch ungestörte und vollständige Hingabe an ihre jeweilige Religion zur letztgültigen Wahrheit vorstossen könnten! Ein aufgeklärtes Religionsverständniss verlangt Bescheidenheit.
Erinnern wir uns, was Kant geschrieben hat: "Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben; die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft.“ Damit sind die Antinomien der Vernunft gemeint. Hat die Welt einen Anfang in der Zeit oder ist sie anfangslos? Ist die Welt räumlich begrenzt oder ist sie grenzenlos? Gibt es ein kleinstes Teilchen (aus dem die Welt zusammengesetzt ist) oder nicht? - Solche und ähnliche Fragen machen uns deutlich, dass unsere Wirklichkeit halt ein im letzten undurchdringliches Geheimnis ist. Aber ich finde, dass gerade die Antinomien der Vernunft uns ein Gefühl dafür geben, wie schillernd wohl die Wirklichkeit sein muss. Sich widersprechende Religionsbilder können wohl entsprechend eher als ein Zeichen gewertet werden, dass wir auf der richtigen Spur sind, als nicht. Dies klingt zwar streng logisch paradox, scheint mir aber dennoch als Intuition noch einsichtig zu sein.
In diesem Zusammenhang möchte ich auch noch auf ein paar wichtige Einsichten der Religionspsychologie hinweisen (nach James Fowler):
"Selbständiges Denken lernt das Kind mit ca. sieben Jahren, wobei sich dieses nur auf konkrete Dinge bezieht, abstrakte Schlussfolgerungen sind noch nicht möglich. Der damit einhergehende mythisch-wörtliche Glaube nimmt die kognitiven und psycho-sozialen Bedürfnisse dieser Phase auf und beinhaltet ein klar strukturiertes, auf eindeutigen Regeln beruhendes Weltbild. Religiöse Überlieferungen werden wörtlich verstanden, Gottesbilder haben anthropomorphen Charakter. Trotz seines typischen Auftretens im Kindesalter zeigt sich der mythisch-wörtliche Glaube auch bei vielen Erwachsenen; er findet sich wieder in fundamentalistischen Bewegungen, die auf einem wörtlichen Verständnis der Bibel bestehen und deren Gottesbeziehung vornehmlich durch ein enges Verhältnis zu Jesus charaktereisiert ist - eine Form biblisch gerechtfertigter Anthropomorphie.
Ab ca. zwölf Jahren beginnt der nächste kognitive Entwicklungsschritt. Nach seinem Abschluss können Kinder bzw. Jugendliche abstrakt denken und sind fähig zur Perspektivenübernahme. Zu der nun zu bewältigenden Aufgabe der Identitätsbildung trägt auch der synthetisch-konventionelle Glaube bei. Die Bedeutung, die Erwartungen und Urteilen anderer in dieser Phase zugeschrieben wird (Wie sieht Gott mich, wie sehen andere mich?), spiegelt sich in einer konventionellen Ausrichtung des Glaubens wieder. Diese ist der stabilisierende Rahmen für die Phase der Selbstwerdung: Eine persönliche Gottesbeziehung und starke Plausibilitätsstrukturen geben Rückhalt und Sicherheit.
Ein Hinterfragen der synthetisch-konventionellen Religiösität leitet die individuierend-reflektierende Phase ein, die durch kritische Distanzierung von dem bisher als selbstverständlich Angenommenen gekennzeichnet ist. Es kommt zu einer Entmythologisierung des Weltbilds, Symbole werden im Sinne Tillichs "gebrochen". Die individuierend-reflektierende Stufe stellt somit eine Distanzierung von der Religiösität dar, die in den meisten Fällen den Schlusspunkt der religiösen Entwicklung bedeutet. Nur wenige wagen nach der Abwendung eine Rückkehr, kommen zu dem Schluss, dass Rationalität nicht alles sein kann und öffnen sich im Sinne einer "zweiten Naivität" (Ricoeur) erneut für religiöse Symbolik. Eine solche Phase des verbindenden Glaubens ist gekennzeichnet durch Offenheit und Weite. Was zuvor als unvereinbar und widersprüchlich betrachtet wurde, wird nun mit Augen für die Wahrheit des anderen gesehen, "frei von Beschränkungen auf Stamm, Klasse, religiöse Gemeinschaft und Nation". Erst jetzt scheint die Bereitschaft für plurale Religiösität gegeben.
Folgt man Fowlers Annahme einer hierarchischen Abfolge von Stufen, so kann sich plurale Religiösität erst entwickeln, wenn zuvor ein synthetisch-konventioneller Glaube gelebt wurde; wenn dieser sodann hinterfragt und einer kritischen Distanzierung unterzogen wurde, die aber nicht bestehen blieb, sondern in eine erneute Suche nach tieferen Ebenen von Wahrheit mündete. Erst in dieser Phase, dem verbindenden Glauben, beruht die Weltanschauung nicht mehr auf einer dichotomen Logik von wahr und falsch, ist bereit für eine Wahrnehmung der Einheit von Gegensätzen. Was in der synthetisch-konventionellen Phase des Glaubens als nicht rechtgläubig oder dem jeweiligen Konsensus widersprechend beurteilt worden wäre, kann jetzt als gleichberechtigt betrachtet werden. Eine Identifikation mit mehr als einer religiösen Tradition im Sinne multipler religiöser Identität ist möglich, oder auch die Integration von Elementen anderer religiöser Traditionen in die eigene Patchwork-Religiösität.
Schliesslich kann auch noch eine letzte, sechste Stufe der Religiositätsentwicklung identifiziert werden, die als universalisierender Glaube bezeichnet wird. Ihm sind die wenigen Individuen zuzuordnen, denen in Anbetracht der Selbsttranszendenz die Selbsterhaltung irrelevant wird. "Das Selbst auf der Stufe 6 fühlt sich verpflichtet, sich für die Verwandlung der gegenwärtigen Realität in Richtung auf eine transzendente Aktualität einzusetzen und sich für sie einsetzen zu lassen."" Damit haben wir wohl die "Jesus-Stufe" erreicht!
aus: "Religiösität und Identität" von Tatjana Schnell, in: Reinhold Bernhardt und Perry Schmidt-Leukel (Hrsg.). "Multiple religiöse Identität - Aus verschiedenen religiösen Traditionen schöpfen". Theologischer Verlag Zürich, 2008, S. 170-172.
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