Montag, 26. Oktober 2009

Ehrfurcht vor dem Leben

"Gut ist: Leben erhalten und fördern; schlecht ist: Leben hemmen und zerstören. [...] Die Ehrfurcht vor dem Leben und das Mitleben des andern Lebens ist das grosse Ereignis für die Welt. Die Natur kennt keine Ehrfurcht vor dem Leben. Sie bringt tausendfältig Leben hervor in der sinnvollsten Weise und zerstört es tausendfältig in der sinnlosesten Weise. [...] Der grosse Wille zum Leben, der die Natur erhält, ist in rätselhafter Selbstentzweiung mit sich selbst. Die Wesen leben auf Kosten des Lebens anderer Wesen. Die Natur lässt sie die furchtbaren Grausamkeiten begehen.
Die Welt, dem unwissenden Egoismus überantwortet, ist wie ein Tal, das im Finstern liegt; nur oben auf den Höhen liegt Helligkeit. Alle müssen in dem Dunkel leben, nur eines darf hinaus, das Licht schauen: Das höchste, der Mensch. Er darf zur Erkenntnis der Ehrfurcht vor dem Leben gelangen, er darf zu der Erkenntnis des Miterlebens und Mitleidens gelangen, aus der Unwissenheit heraustreten, in der die übrige Kreatur schmachtet.
Da sagt der Versucher: So kann man nicht leben. Man muss absehen können von dem, was um einen vorgeht. Nur keine so grosse Empfindsamkeit. Erziehe dich zur notwendigen Gefühlslosigkeit, lege einen Panzer an, werde gedankenlos wie die andern, wenn du vernünftig leben willst. Zuletzt kommen wir dann so weit, dass wir uns schämen, das grosse Miterleben und das grosse Mitleiden zu kennen. Wir [...] tun als wäre es uns etwas Törichtes, so etwas, das man ablegt, wenn man anfängt ein vernünftiger Mensch zu werden.
Dies sind die drei grossen Versuchungen, die uns unversehens die Voraussetzung, aus der das Gute kommt, zugrunde richten. Seid wachsam gegen sie. Der ersten begegne, indem du dir sagst, das Mitleiden und Mithelfen ist für dich eine innere Notwendigkeit. Alles, was du tun kannst, wird in Anschauung dessen, was getan werden sollte, immer nur ein Tropfen statt eines Stromes sein; aber es gibt deinem Leben den einzigen Sinn, den es haben kann und macht es wertvoll. Wo du bist, soll, so viel an dir ist, Erlösung sein, Erlösung von dem Elend, das der in sich selbst entzweite Wille zum Leben in die Welt gebracht hat, Erlösung, wie sie nur der wissende Mensch bringen kann. Das Wenige, das du tun kannst, ist viel - wenn du nur irgendwo Schmerz und Weh und Angst von einem Wesen nimmst, sei es Mensch, sei es irgendeine Kreatur. Leben erhalten ist das einzige Glück.
Der anderen Versuchung, dass das Mitleiden dessen, was um dich vorgeht, Leiden für dich ist, begegne dadurch, dass du dir bewusst wirst, dass mit dem Mitleiden zugleich die Fähigkeit des Mitfreuens gegeben ist. Mit der Abstumpfung gegen das Mitleiden verlierst du zugleich das Miterleben des Glücks der andern. Und so wenig Glück ist, das wir in der Welt erschauen, so ist doch das Miterleben des Glücks um ums herum mit dem Guten, das wir selbst schaffen können, das einzige Glück, welches uns das Leben erträglich macht!"

von Albert Schweitzer

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.