Donnerstag, 30. Juni 2011

Die Apokalypse und 2012

Die Entrückung kam und ging. Jedenfalls ist das die Geschichte, die die neuesten christlichen Endzeitjünger erzählen, die daran glauben, dass das Ende der Welt gekommen ist – oh, vor einigen Tagen. Manche haben ihren Job gekündigt, ihre Ersparnisse ausgegeben, sich von Freunden und Familie verabschiedet – alles in dem festen Glauben, dass wir tatsächlich an der letzten Ausfahrt zum Himmel angekommen sind. Ein Ehepaar in Florida verschleuderte gar die Ersparnisse eines ganzen Lebens, denn wozu brauchten sie die noch nach dem 21. Mai? Ja, es ist verrückt. Ja, es ist traurig. Ja, das scheint sich ungefähr alle fünf Jahre zu wiederholen. Ja, es ist in unseren modernen Zeiten schwer zu glauben, dass diese Denkweise immer noch solche Blüten treiben kann.
In akademischen Kreisen wird so etwas als eschatologisches Denken bezeichnet oder als Chiliasmus (die Lehre vom tausendjährigen Reich; das bezieht sich auf die Bibel, der zufolge Christus eines Tages im Paradies tausend Jahre regieren wird). Doch um die Wahrheit zu sagen: Diese Dinge gehören seit jeher zum Grundbestand der religiösen Traditionen. Und auch wenn sie in einigen dieser Traditionen in den letzten paar hundert Jahren verblasst sind, handelt es sich dabei doch keineswegs um ein Randthema. Jede größere Religion, einschließlich des Buddhismus, hat irgendeine Art von messianischer, eschatologischer Tradition. Wenn nicht die Wiederkunft Christi, dann die des Mahdi, die Ankunft des Maitreya, das Erscheinen Kalkis, das Ende des Eisernen Zeitalters, das Kommen des Neuen Jerusalem, die Rückkehr des Quetzalcoatl, das … okay, Sie verstehen das Prinzip. Auch heute noch haben die meisten religiösen Traditionen einen reichen, aktiven eschatologischen Kern.
Vor knapp zehn Jahren habe ich schon einmal einen Artikel zu diesem Thema geschrieben. Es ist faszinierend und schockierend: Obwohl es eins ums andere Mal danebengegangen ist, lassen sich die Leute nicht davon abbringen. Das Endzeitdenken gehört zu der Art gedanklicher Viren, die durch Fehlschläge einfach nicht totzukriegen sind.
Für uns aber, die eher aus progressiven, weniger traditionsgebundenen Umfeldern kommen, ist es ein intellektueller Sport mit garantierter Trefferquote. Eine Menge guter apokalyptischer Witze kursieren derzeit. Das einzige Problem mit all dieser Heiterkeit auf Kosten der wahren Gläubigen besteht darin, dass sie nicht als Einzige der Versuchung erliegen, an irgendeine Art messianischem Ereignis außerhalb der Geschichte zu glauben, durch den irgendwie die Welt gerettet wird. Ich beobachte mit einer gewissen Faszination, wie sogar einige Leute der Marke „spirituell, aber nicht religiös“ einen eigenen messianischen Geschmackssinn entwickeln. Ja, auch in den progressiven Bereichen der Kultur, in denen kluge, spirituell orientierte Menschen mit den besten Absichten ehrlich daran arbeiten, sich selbst und die Welt zu verbessern, treibt dieses Denken seine Blüten, wenn auch gewiss nicht so dramatisch.
Werfen wir nur einen Blick auf den Hype um das Jahr 2012. Die 2012er-Fraktion glaubt, der Maya-Kalender und verschiedene andere prophetische Ankündigungen würden besagen, dass irgendwann um den 21. Dezember 2012 große Veränderungen auf der Erde geschehen werden. Das ist also der Zeitpunkt, an dem alles auf großartige Weise kulminiert – je nachdem, mit wem man spricht, wird es ein fantastischer evolutionärer Durchbruch sein, durch den Liebe und Licht wieder erstarken, oder ein gewaltiges Szenario globaler Veränderungen von epischem Ausmaß. Man denke nur an den Film 2012, der eine verheerende, die ganze Welt zerstörende Verschiebung der Magnetpole beschreibt.
2012 ist die progressive Variante des traditionellen eschatologischen Denkens. Es geht um die Vorstellung von einem Ereignis, das völlig außerhalb des normalen Ablaufs der Geschichte liegt, alles verändert, dabei die Mehrheit der Menschen auf eine höhere Bewusstseinsstufe katapultiert und so eine erleuchtete Zukunft erschafft. Es gibt davon auch die düstere Variante, bei der sich eine Art Miniapokalypse ereignen muss, bevor der bessere Teil der Zukunft anbricht, doch im Allgemeinen steht 2012 für eine positive Version des eschatologischen Denkens.
Es fällt nicht schwer, die Attraktivität dieses Denkens zu verstehen. Wer sich Gedanken macht um das Schicksal dieses wunderbaren blauen Planeten und seiner bemerkenswerten, ihrer selbst bewussten Bewohner – ganz zu schweigen von den Scharen großer und kleiner, niedlicher, pelziger Kreaturen (und natürlich auch der nicht so niedlichen und pelzigen) –, kommt zu dem Schluss, dass der Einfluss unserer Lebensform sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt hat. Unsere Macht ist weit über alles je Dagewesene hinaus gewachsen, eine technisch gestützte Macht, die sich mit allem messen kann, was sich die mythischen Götter jemals hätten ausdenken können. Wir haben uns zu Herren über den Planeten aufgeschwungen, und mit dieser Macht geht die berechtigte Angst einher, dass wir unabsichtlich, sozusagen aus Versehen unser eigenes Endzeitszenario, unsere eigene apokalyptische Zerstörungsorgie erschaffen, wenn unsere Gattung nicht rasch reifer wird. Und nachdem diese Reifung ein bisschen länger dauert als wir gern hätten, entsteht die verständliche Neigung, sie durch ein oder zwei gewaltige Ereignisse anzuschieben und so eine höhere Stufe der Bewusstheit sowie einen höheren Grad an Verantwortung zu erzielen. Glauben Sie mir, wenn so etwas ginge, wäre ich der Erste, der sich dafür anmeldet.
Auch wir im progressiven Lager müssen also aufpassen, dass wir nicht in messianisches Denken verfallen. Gleichzeitig aber dürfen wir nicht in die gegenteilige Falle tappen und zulassen, dass unser Idealismus in einen Realismus abgleitet, der nicht mehr ist als Zynismus. Unerwartete, erstaunliche, positive Ereignisse können durchaus geschehen. Es gibt diese gewaltigen, sprunghaften Entwicklungen nach vorn, die uns alle überraschen. In der Tat: Nur weil nicht gleich in den nächsten paar Tagen 1000 Jahre voller Liebe und Licht für uns alle anbrechen, brauchen wir nicht gleich jeglichen Glauben an positive Möglichkeiten für die Zukunft aufzugeben. Wir brauchen nicht den Glauben daran aufzugeben, dass wir tatsächlich über die Macht verfügen, die Kräfte der kulturellen Entwicklung anzuschupsen, in eine positive Richtung zu schieben und ein Stückchen voranzubringen. Wie können wir also verantwortlich und zugleich optimistisch über die Evolution der menschlichen Kultur nachdenken, ohne dabei einerseits in Fatalismus und Zynismus oder andererseits in allzu optimistische messianische Erwartungen zu verfallen? Wo liegt der Mittelweg zwischen diesen beiden verführerischen Fallen des menschlichen Geistes?
Carter Philipps
Apocalypse Now, progessiv, EnlightenNext Germany
  
***
  
"Whenever the world declineth in virtue and righteousness;
and vice and injustice mount the throne, then cometh I,
the Lord and revisit my world in visible form, and mingleth
as a man with men, and by my influence and teachings do I destroy
the evil and injustice and reestablish virtue and righteousness.
Many times have I thus appeared, and many times hereafter
shall I come again."
Bhagavad Gita

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