Christus ist eine jener urbildlichen Figuren, die etwas vom Drama des Menschseins auf eine sehr klare Art auszudrücken vermögen: den Schmerz, die Angst und die Liebe. Das "Jesus-Prinzip" will, erstens, dass wir auf der Seite der Unschuldigen und Leidenden stehen. Zweitens, bedeutet es im Feind den Menschen, das Geschöpf Gottes, zu erkennen. In Feindesliebe wird der andere von seinen Sünden losgesprochen. Es geht um die Überwindung von Gewalt und Hass. "Entfeindung" und Versöhnung sind der Weg. Dies kann oftmals der einzige Weg zum Anhalten von Gewaltspiralen und Gewaltverirrungen sein. Allerdings bedeutet Liebe auch immer leiden, denn verlangt sie doch immer ein Stück Selbstaufgabe. Aber Gott ist dann mit uns. Gott ist da, wo Glaube, Hoffnung und Liebe sind. "Nähe" ist dabei nicht als eine "räumliche" Kategorie zu verstehen, sondern als eine Seins-Kategorie. Wo das ist, was ihn am meisten abbildet und vergegenwärtigt, wo Wahrheit und das Gute sind, da berühren wir ihn, den Allgegenwärtigen, in besonderer Weise. Aber Gott trägt auch die Ungerechtigkeit der Welt im Leiden mit, so dass wir gerade in den dunkelsten Stunden uns Gott am allernächsten wissen dürfen. Der christliche Gott der Liebe steht für Hoffnung für die scheinbar Hoffnungslosen.
Wenn Glaube und Liebe verschmelzen, fängt das Abenteuer der Heiligkeit an. Wer das einmal verstanden hat, ist ins Herz des Glaubens eingetreten. Wer den Willen Gottes tut, der wird an sich erfahren, ob diese Lehre von Gott ist. Das Gewissen ist die Stimme Gottes im Herzen des Menschen. "Wer aber die Wahrheit tut, kommt zum Licht." (Johannes, 3,21). Und keine Finsternis des Irrtums und der Sünde vermag das Licht des Schöpfergottes im Menschen völlig auszulöschen. In der Tiefe seines Herzens besteht immer weiter die Sehnsucht nach der göttlichen Wahrheit. Die Nachfolge Christi ist das wesentliche und ursprüngliche Fundament der christlichen Moral. "Folge mir nach." (Matthäus 9,9).
Das "Jesus-Prinzip" bedeutet im letzten totale Hingabe fürs Gute und den Frieden, selbst zum Preis des eigenen Lebens und der Breitschaft für andere zu leiden. So die Antwort auf die Logik des Bösen. Was Jesus indess meint, ist nich ein Nachgeben aus Schwäche, Kraftlosigkeit oder Feigheit. Was ihm vorschwebt, ist ein Nachgeben aus Überzeugung und innerer Stärke. Warum sich unterlegen fühlen, wenn ein anderer Mensch unsere Hilfe benötigt? Das Opfer von Jesus Lebens am Kreuz ist ein Sinnbild für die höchste Stufe der Humanität! Es gibt keine grössere Liebe, als wenn einer sein Leben für andere hingibt. Häufig lässt nur noch das "Jesus-Prinzip", radikal gelebte Nächsten- und Feindesliebe, Teufelskreise von Gewalt, Angst und Verzweiflung anhalten. Liebe kann, konsequent zu Ende gedacht, nicht heissen, dass in dem zu Liebenden noch irgend etwas Liebenswertes zu finden sein muss. Vielmehr öffnet sie sich auch für den, von dem der normale Mensch sagen würde, dasss er der Liebe gar nicht wert sei. Vielleicht liegt die Lieblosigkeit ja auch nur darin, dass man noch niemals erlebt hat, dass man etwas freiwillig bekommen hat - als Geschenk. Durch Selbstlosigkeit tritt man ein in das wahre Reich Gottes. So verlässt man die kleinlichen Grenzen des Denkens von "Freund" und "Feind". So senkt sich ein Stück vom Frieden Gottes durch uns über die Menschen.
Bei allem gesagtem, darf aber der mythische Charakter von Vorstellungen von Teufel, Hölle, Jüngstem Gericht, Weltuntergang, Anbruch der Gottesherrschaft und dergleichem nicht vergessen werden. Dies sind alles nur symbolische Beschreibungen bestimmter religiöser Einsichten und Erfahrungen, die jedoch nichts desto trotz von grösster Bedeutung sind. Denn es ist einzig die Liebe, das Verstehen und die Güte, welche den Abgrund unter unseren Füssen wieder zu schliessen vermag.
Kant knüpft an den Gedanken an, im Gewissen die Stimme Gottes zu vernehmen. Für Kant ist Religion die Erkenntnis all unserer Pflichten als göttliche Gebote. Worin die Gewissheit Gottes ihren Grund findet ist die moralische Gesinnung. Die Moral hat einen unbedingten Anspruch als Faktum. Die natürliche Religion ist, wie Gott und seine Beziehung zur Schöpfung und zum Menschen auf natürliche Weise erkennbar ist. Dabei ist für Kant die allgemeine Menschenvernunft, und nicht die Vorbildgeschichte des Jesus, das oberste gebietende Prinzip in einer natürlichen Religion. Wichtig ist, das ein jeder sich selber durch seine Vernunft über die Bedeutung der moralischen Gebote überzeugen kann. Für Kant ist der freie und gute Wille Ausgangspunkt seiner Vernunftethik. Entsprechende wird eine Offenbarung Gottes, wie in der Bibel, als moralische Richtschnur abgelehnt. Vielmehr geht es um das Offenbarwerden der Vernunft, insofern der Mensch kraft seines Vernunftgebrauchs selber erkennen kann, was ihm Gott so offenbaren will. Dennoch spielt auch für Kant die Person Jesus durch Lehre, Lebenswandel, Bewährung in der Versuchung, Leiden und Tod nun genau "das Beispiel eines Gott wohlgefälligen Menschen ... soweit als man von äusserer Erfahrung nur verlangen kann (indessen dass das Urbild eines solchen immer doch nirgends anders, als in unserer Vernunft zu suchen ist)." Jesus ist für Kant ein Lehrer, der eine allgemeine, moralische, für jedermann fassliche, kurz die natürliche Religion gelehrt hat. Die Jesus-Gestalt und damit das "Jesus-Prinzip" sind in dieser Sichtweise wichtig um die Menschen auf die moralische Bahn zu bringen, um sie zu überzeugen, zu motivieren und zu orientieren. Ein gewisser Anthropomorphismus kann nützlich sein, um übersinnliche Beschaffenheiten begreiflich zu machen. Deshalb mag ein Rückgreifen auf menschliche Verhaltensweisen legitim sein, um uns die Liebe Gottes zu den Menschen darzustellen. In Kants Augen ist die Annahme eines übernatürlichen Ursprungs der historischen Person Jesus in moralisch-praktischer Absicht jedoch kontraproduktiv. Sie würde uns Menschen zu weit entrückt werden und dadurch ihrer Vorbildfunktion verlustig gehen.
Jeder Mensch hat ein Bewusstsein für seine moralischen Verpflichtungen. Die Anlage zur Moralität und die Realisierung dieser Anlage ist in Kants Augen dasjenige, was einer ansonsten wertfreien, gleichgültigen Welt Sinn verleiht. Aber wie stark ist die reale Kraft des Liebesgebots in der realen Welt wirklich? - Deswegen muss sich die Moralität im Menschen mit Annahmen verbinden, die längerfristig die Perspektive eines sinnvollen Ganzen der Wirklichkeit bieten. Die einzig passende Antwort der Vernunft im Interesse moralischer Selbsterhaltung ist die Annahme einer anderen Welt, in der die Entsprechung von Moralität und Glückseeligkeit gesichert wird. Damit einher geht die Annahme meines eigenen Freiseins, die Existenz eines allmächtigen, allwissenden und allgütigen Gottes als Welturheber und Richter und die Unsterblichkeit meiner Seele. Auch wenn wir theoretisch Agnostiker sein sollten, wäre es in praktischer Absicht besser zu glauben, dass es einen Gott gibt, als nicht. So "werde ich unausbleiblich an ein Dasein Gottes und ein künftiges Leben glauben, und bin sicher, dass diesen Glauben nichts wankend machen könne, weil dadurch meine sittliche Grundsätze selbst umgestürzt werden würden, denen ich nicht entsagen kann, ohne in meinen Augen verabscheuungswürdig zu sein." (Kant). Zur Überwindung der Skepsis bedarf es des Glaubens an ein Ideal, an ein höchstes Gutes, an einen Gott - an Gott als Garant der Ethik.
Offene Frage: Wenn Gott selbstlose Liebe ist - wieso sollte er dann eigentlich noch darauf bestehen, verehrt und verherrlicht zu werden? - Vielleicht sollten wir uns klarwerden, dass wir Menschen grundsätzlich Beziehungswesen sind auf der Suche nach dem grossen DU. Sofern wir an Gott glauben wollen, heisst das uns als von Gott geschaffene Geschöpfe zu empfinden. Also warum nicht etwas Dankbarkeit für unseren himmlischen Vater, vergleichbar mit normaler Elternliebe? Aber das Entscheidende scheint mir zu sein, dass Gott ein mitlebender und mitleidender Gott ist, was in Jesus zum Ausdruck kommt. Liebe als Antwort auf Liebe. Die christliche Liebesmystik ist durchtränkt von der Sehnsucht nach dem Einswerden mit Gott, die Sehnsucht nach der absoluten Liebe. Und mit den Worten Rumis: "in den Armen des Geliebten sein". In den Armen des geliebten Gottes. Gott ist der tragende Grund und der unvergängliche Liebhaber. Liebe ist Ursache und Ziel der Schöpfung. Aus Liebe hat Gott uns und die Welt geschaffen. Liebe ist der Wurzelgrund. Die wahre Wurzel ist zu entwerden, sein Ich im Ich des gliebten Wesens aufzugeben, zu sterben.
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