Mittwoch, 24. Juni 2009

"Die Brüder Löwenherz" von Astrid Lindgren


Krümel Löwenherz und seinen Bruder Jonathan lesend zu begleiten, erfordert mehr Haltung als manchmal zur Verfügung steht. Die Geschichte ist so traurig, dass sie im Herzen weh tut, jedenfalls denen, die kein Löwenherz haben, und das sollen einige sein. Leute, die es vollkommen unerträglich finden, schon auf Seite eins vorzulesen zu müssen, dass Krümel bald sterben muss, ein nur zehnjähriger Junge, der in einem alten Holzhaus auf die Küchenbank gebettet ist und haltlos weint, weil er gehört hat, dass er bald sterben muss. Und nicht glauben kann, was sein großer Bruder Jonathan, der auch nur drei Jahre größer ist, ihm zum Trost versucht zu sagen: dass es nach dem Sterben bestimmt herrlich wird. "Herrlich?" sagte ich, "tot in der Erde liegen, das soll herrlich sein?!"
Stimme festigen, weiterlesen. Bald wissen wir, dass Krümel nicht nur einen, sondern viele Tode sterben muss, aus Angst, aus Schreck, aus Liebe, und keineswegs der Einzige ist, dem das wiederfährt, nicht mal der Erste. Als Erster stirbt Jonathan, noch vor Kapitel zwei. Und das soll ein Kinderbuch sein?! Womit wir zur guten Nachricht kommen: Die Brüder Löwenherz leben nach dem Sterben in aufregenster Weise weiter, im Land der Sagen und Lagerfeuer, in Nangijala! Kämpfen gegen einen blutrünstigen Herrscher, besiegen einen Drachen, und wie Krümel das durchsteht, mit der Verzweiflung einer angstschlotternden Maus, es ist ein Wunder. Schon reiten sie wieder, Krümel und Jonathan, über Kirschblütenwiesen, angeln an Seen und erzählen sich Geschichten. Im Land der Toten, dies ist die Botschaft, geht das Erzählen weiter, wir nehmen es als Versprechen, liebe Astrid Lindgren, unbedingt.
(Von Susanne Mayer, 'Krümel Löwenherz', Die Zeit, 06/2002.)

Ein paar Szenen aus dem gleichnamigen Film "Die Brüder Löwenherz".


Im Folgenden ein paar Textausschnitte, die ich beim Lesen des Buches unterstrichen habe. Hat vielleicht ein bischen etwas dadaistisches ...

Aber wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.

Weine nicht, Krümel, wir sehen uns in Nangijala wieder!

Dann wird meine Seele bei dir sein.

Aber gewiss doch, natürlich war es wahr, das mit Nangijala!

Weine nicht, Mama! Wir sehen uns wieder in Nangijala!

Die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen.

Man hat nicht einmal Angst davor, dass alles plötzlich zu Ende ist, so wie es sonst mit allem geht, was Spass macht.

Jonathan, du hast gesagt, dass man in Nangijala von früh bis spät und selbst nachts Abenteuer erlebt.

Abenteuer wirst du schon noch erleben.

Denn glaub mir, es gibt Abenteuer, die es nicht geben sollte.

Dann ist es so, wie ich vermutet habe, sagte er. Wir haben einen Verräter im Kirschtal.

Warum bleibt er denn nicht in seinen Uralten Bergen?, fragte ich. Warum muss er nach Nangijala kommen und alles zerstören? - Ja, warum?, sagte Jonathan. Wer darauf eine Antwort weiss, weiss viel. Ich kann dir nicht sagen, warum er alles vernichten muss. Es ist eben so. Er gönnt den Leuten in den Tälern nicht, dass sie ihr Leben leben. Und er braucht Sklaven.

Oh, wie ich mir wünschte, ebenso mutig zu sein wie Sophia und Jonathan! Aber ich hatte solche Angst, dass ich kaum denken konnte.

Eines Tages schlägt auch für Tengil die Stunde.

Plötzlich musste ich daran denken, wie es damals gewesen war, damals, als Jonathan tot und fort gewesen war und ich auf meiner Schlafbank in der Küche gelegen und nicht mit Sicherheit gewusst hattte, ob ich ihn wieder sehen würde. Daran zu denken war wie ein schwarzes Loch starren.

Ich dachte an das, was mir Jonathan von Tengil erzählt hatte, und es kam mir vor, als wäre es die grausamste aller Sagen. Ich fragte Jonathan, warum er sich in eine solche Gefahr begeben müsse. Ebenso gut könne er doch zu Hause am Feuer sitzen und es sich gut gehen lassen. Aber da antwortete mir Jonathan, es gebe Dinge, die man tun müsse, selbst wenn es gefährlich sei. Aber warum bloss?, fragte ich. Weil man sonst kein Mensch ist, sondern nur ein Häuflein Dreck, erwiderte er.

Einmal noch musste ich ihn sehen, ehe ich ihn vielleicht für immer verlor.

Weine nicht, Krümel! Wir sehen uns wieder - bestimmt! Wenn nicht hier, dann in Nangilima.

Was konnte ich schon tun, niemand war so hilflos wie ich! Ich konnte nur in meinem Bett zurückkriechen und dort lag ich dann zitternd und fühlte mich so verloren, klein und verängstigt und einsam, so einsam wie niemand sonst auf der Welt.

Ich tue es! Ich tue es! Ich bin kein Häuflein Dreck! Oh, was für ein schönes Gefühl es war, sich endlich entschlossen zu haben!

Ich erzälte Fjalar, wie es war, ich zu sein, ich auf dem langen Ritt in die Berge. Begreifst du, was für ein Abenteuer es für mich ist?

Ich wünschte mir nur eins: sofort einzuschlafen, noch bevor ich anfing mich zu fürchten. Ja, Pustekuchen! Und wie ich mich fürchtete! Ich kenne keinen, der sich so schnell fürchtet wie ich mich. Die Gedanken kreisten in meinem Kopf herum.

Denn hier gab es Steilhänge und Abgründe, dass einem schwindelte vor so viel schrecklicher Schönheit. Es war, als reite man in einem Traum, ja diese ganze Mondscheinlandschaft kann es nur in einem schönen und wilden Traum geben, dachte ich und sagte zu Fjalar: Wer, glaubst du, träumt dies wohl? Ich jedenfalls nicht. Es muss jemand anders sein, der sich etwas so übernatürlich Schreckliches und Schönes zusammengeträumt hat, vielleicht Gott?

Es wurde immer schlimmer. Schliesslich wagte ich nicht einmal, die Augen offen zu halten, denn sollten wir abstürzen, wollte ich es wenigstens nicht sehen.

Warten ist unheimlich, wenn man auf etwas Unheimliches wartet! Und ein Verräter ist etwas Unheimliches!

Als ihn das glühende Eisen traf, schrie Jossi auf. Ja, fühl nur, wie weh es tut, sagte Kader. Jetzt weisst du für alle Zeiten, dass du einer der Unsern bist, selbst als Verräter.

Schliesslich kann man eifersüchtig und trotzdem ein anständiger Kerl sein.

Löwenherz hat einen kleinen Bruder, den er über alles liebt. Da weinte ich still vor mich hin und sehnte mich nach Jonathan.

Gebt meinen Bruder frei und nehmt mich statt seiner, würde er sagen, falls er sich aus seinem Bruder wirklich etwas macht und ihn vor Qualen bewahren will.

Karlchen Löwenherz ist ein lieber Junge, aber ein Löwe ist er wahrhaftig nicht. Einen furchtsameren Knirps gibt es überhaupt nicht. Hasenherz wäre der richtige Name für ihn.

Alle Macht Tengil, dem Befreier!, sagte Jossi.

Dieser Kerl, sagte Veder, der ist was für Katla, wenn wir erst mit dem Kirschtal fertig sind. Er sagte es so, dass einem klar wurde, was es heisst, in Katlas Gewalt zu geraten. Ich wusste von Katla so gut wie nichts und doch schauderte es mich und Jossi tat mir beinahe Leid, obwohl er ein Schurke war.

Ich wünschte so sehr, sie verschwinden zu sehen, dass es fast wehtat.

Manchmal, wenn die Gefahr am grössten ist, rettet man sich ohne zu überlegen.

Ich musste ein weisses Häuschen mit einem Grossvater finden, sonst würde ich in die Katlahöhle kommen.

Überdies war es schrecklich zu sehen, wie es den Menschen im Heckenrosental erging, wie bleich und verhungert und unglücklich sie alle aussahen, wie anders als die Leute im Kirschtal.

Ein paar Mal in meinem Leben bin ich so froh gewesen, dass ich vor Freude nicht aus noch ein wusste. Als ich vor Freude ganz närisch war. Oh, dass man sich so freuen kann! So, dass einem das Herz im Leib lacht oder wo man sich sonst freut.

Warum hast du gerufen?, fragte ich. Es musste etwas sein, woran er nicht einmal denken konnte, ohne dass es ihm wehtat.

Ich habe Katla gesehen, sagte er. Ich habe gesehen, was Katla tut.

Mein Gott, was gibt es doch für Menschen!

Der auf ewig verdammte Name des Verräters lautet Jossi, der Goldhan. Mach ihn rasch unschädlich. Mein Bruder ist jetzt hier.

Es war ein so herrlicher Abend, die Luft war lau, es atmete sich so leicht.

Und die Blumen gefallen mir und Gras und Bäume und Wiesen und Wälder und hübsche kleine Seen, sagte Jonathan. Und ich liebe es, wenn die Sonne aufgeht und wenn sie untergeht und wenn der Mond scheint und die Sterne leuchten und noch so allerlei anderes, was mir jetzt nicht einfällt. Das mag ich auch alles sehr gern, sagte ich. Das mögen alle Menschen gern, sagte Jonathan. Und wenn sie nicht mehr verlangen, kannst du mir dann erklären, warum sie all das nicht ungestört und in Frieden haben dürfen, ohne dass so ein Tengil auftaucht und ihnen alles verdirbt?

Aber du bist doch noch jung und willst sicher später ein Tengilmann werden, nicht?

Todesstrafe, das ist das Einzige, woran diese Menschen denken können.

Entlich mal wieder satt! Ich hatte schon vergessen, was für ein Gefühl das ist.

So weisst du noch nicht, dass die Leute hier Lieder von diesem Ritt und von Jonathan singen. Dass er zu uns gekommen ist, das ist das einzig Erfreuliche, was sich im Heckenrosental ereignet hat, seit Tengil hier eingefallen ist und uns zu Sklaven gemacht hat. "Jonathan, unser Befreier", singen Sie, denn er wird das Heckenrosental befreien, daran glauben sie und ich glaube es auch. Jetzt weisst du alles.

Ja, vielleicht muss ich deshalb noch am Leben bleiben. Aber einen Kampf zu leiten, dazu tauge ich nicht mehr. Dazu muss man jung sein. Er seufzte. Wenn Orwar hier wäre! Aber er wird in der Katlahöhle schmachten, bis Katla ihn holt.

Von zehn Bohne auf deinem Acker nimmt dir Tengil neun weg, has du das vergessen? Solange Tengil lebt, wird es im Heckenrosental nur Hunger und Not geben.

Vergiss nie, dass du in einem Land bist, wo Tengil herrscht.

Die Nacht muss dunkel sein, sagte er. Denn es gibt im Heckenrosental zu viele Augen, die sehen wollen, was sie nicht sehen sollen!

Erst als ich Tengil von Karamanjaka erblickte, wusste ich, wie ein wirklich grausamer Mensch aussieht.

Nur manchmal kam er über den Fluss ins Heckenrosental und er kam nur, um die Menschen in Schrecken zu versetzen, damit keiner vergass, wer er war, und vielleicht zu viel von Freiheit träumt.

Tyrannen haben immer Angst, das hatte Jonathan gesagt. Und Tengil war der schlimmste aller Tyrannen

Plötzlich war er ganz in meiner Nähe, sodass ich sein grausames Gesicht und seine grausamen Augen sehen konnte. Grausam wie eine Schlange, hatte Jonathan gesagt und so sah er auch aus, durch und durch grausam und blutrünstig. Seine Augen starrten geradeaus, er sah die Menschen nicht, es war, als gäbe es für ihn niemand anders auf der Welt, niemand ausser Tengil von Karmanjaka. Ja, er war schrecklich!

Jonathan hatte sich schon immer gern verkleidet. Abends in der Küche hatter er mir oft Theater vorgespielt. Er konnte sich ganz unglaublich herausstaffieren und die verrücktesten Spässe treiben. Bisweilen hatte ich so über ihn lachen müssen, dass ich Bauchweh bekam. Aber hier vor Tengil, das war doch zu toll.

Keiner von denen, die Tengil ausgewählt hatte, war je lebend zurückgekehrt. Sie mussten in Karmanjaka als Sklaven arbeiten und Steine für die Festung herbeischleppen, die Tengil hoch oben in den Bergen der Uralten Berge für sich erbauen liess. Eine Festung sollte es werden, die kein Feind je erobern konnte, und dort würde Tengil in seiner Grausamkeit jahraus, jahrein sitzen und sich sicher fühlen können. Um so eine Festung zu errichten, brauchte man viele Sklaven und sie mussten sich schinden, bis sie tot umfielen. Und dann kriegt sie Katla. Und doch war für mich Katla nichts weiter als ein abscheulicher Name.

Aber dann war da noch das Weinen. Es klang so kläglich, dieses Weinen all der Frauen, die ihre Männer verloren, und all der Kinder, die ihre Väter nie wieder sehen sollten. Übrigens weinten alle. Auch ich. Tengil aber hörte das Weinen nicht. Er sass dort hoch zu Ross und jedes Mal, wenn er auf jemanden zeigte und damit zum Sterben verurteilte, blitzte der Diamant an seinem Zeigefinger auf. Es war furchtbar, nur mit seinem Zeigefinger verurteilte er Menschen zum Tod!
Tyrann!, schrie er. Einmal musst auch du sterben, hast du daran gedacht? Und dann spuckte er Tengil ins Gesicht.

Er bildet sich bestimmt ein, dass es hier nur noch verängstigte Sklaven gibt. Aber da irrt er sich, sagte Matthias. Tengil begreift nicht, dass er Menschen, die für ihre Freiheit kämpfen und fest zusammenhalten wie wir, niemals unterdrücken kann.

Nicht ohne mich, rief ich. Noch einmal darfst du mich nicht allein lassen! Wo du hingehst, da gehe ich auch hin.

Gleich darauf wurde die Stalltür aufgerissen und dort stand er in seinem schwarzen Helm und seinem schwarzen Mantel. Nein, schrie ich, nein, nein! Doch da war er schon bei mir und schlang die Arme um mich. Jonathan tat dies. Er war es! Erkennst du deinen eigenen Bruder nicht?

Nichts ist sicher in der Welt, in der Tengil lebt, antwortete er. Aber wenn wirklich alles misslingen sollte, dann kehrst du um und bleibst bei mir.

Matthias, hast du denn niemals Angst?, fragte ich. Aber sicher habe ich Angst, antwortete Matthias. Und er nahm meine Hand und legte sie sich auf die Brust. Alle haben wir Angst, nur darf man es manchmal nicht zeigen.

Leb wohl, mein Junge, sagte Matthias. Vergiss deinen Grossvater nicht! Nein, nie, niemals werde ich dich vergessen, sagte ich.

Ich kroch durch den langen, finsteren Gang und die ganze Zeit über sprach ich mit mir selbst, um mich zu beruhigen und keine Angst zu bekommen.

Ich weiss nicht, warum mir alles so traurig und einsam und beängstigend vorkam, als ich an diesem Morgen erwachte. Ich fürchtete mich vor dem, was uns erwartete. Vor allem, was ich noch nicht kannte.

Herrlicher habe ich wohl nie gebadet und auch nicht gefährlicher. Ich spürte den Sog des Karmafalles am ganzen Körper. Ich brauchte nur die Zehen einzutauchen, dann spürte ich diesen Sog, der mich mitreissen wollte.

Nun wollte er zurück ans Ufer, merkte aber bald, dass es nicht ging. Nein, denn die Strömung wollte nicht wie er! Sie wollte ihn in den Karmafall zwingen und das verdiente er auch. Ich sah den Schrecken in Pärks Augen, er wusste, wohin er trieb. Es wurde ein Ringen auf Leben und Tod, denn der Fluss wollte sein Opfer nicht freigeben.

Es war ein fürchterlicher Platz, schrecklich und schön wie kein anderer im Himmel oder auf Erden, glaub ich. Die Berge und der Fluss und der Wasserfall, alles war in einem Traum und ich sagte zu Jonathan: Glaube nicht, dass dies Wirklichkeit ist! Es muss ein Stück aus einem Urzeittraum sein, ganz bestimmt!

Ich fragte Jonathan: Wie kann man über so fürchterliche Tiefen eine Brücke bauen? Ja, dass möchte ich auch wissen, sagte er. Und wie viele Menschenleben es gekostet hat, wie viele mit einem Aufschrei abgestürzt und im Karmafall verschwunden sind, dass möchte ich wissen. Ich schauderte. Mir war, als hörte ich noch die Schreie zwischen den Bergwänden widerhallen.

Die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen, weisst du noch, dass du das gesagt hast?, fragte ich Jonathan. Ja, ich weiss, sagte Jonathan. Aber damals ahnte ich noch nicht, dass es auch in Nangijala böse Sagen gibt.
Muss das immer so sein?, fragte ich. Nein sagte er dann, wenn der Kampf einmal vorüber ist, wird Nangijala wohl wieder ein Land, wo Sagen und Märchen schön sind und das Leben leicht und einfach ist wie früher.
Aber dieser letzte Kampf, Krümel, kann nur ein böses Märchen sein, eine Saga vom Tod und nichts als dem Tod. Und deshalb muss Orwar diesen Kampf leiten, nicht ich. Denn ich tauge nicht dazu, einen Menschen zu töten.
Warum hast du diesem Pärk das Leben gerettet? War das wirklich recht? Ich weiss nicht, ob es recht war, antwortete Jonathan. Aber es gibt Dinge, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck, das habe ich dir schon früher gesagt.
Der Schrecken sass wieder in mir, sobald ich mich erinnerte. Wie kann es so etwas wie Katla nur geben? Ist es ... ein Ungeheuer oder ...? Ja, Katla ist ein Ungeheuer, antwortete Jonathan. Ein Drachenweibchen, emporgestiegen aus der Urzeit und ebenso grausam wie Tengil. Woher hat er sie?, fragte ich. Sie ist aus der Katlahöhle gekommen, das glaubt man jedenfalls, sagte Jonathan. Dort war sie einst tief in der Urzeitnacht eingeschlafen und schlief tausend und abertausend Jahre und niemand wusste, dass es sie gab. Doch eines Morgens erwachte sie.
Vor seinem Horn fürchtet sie sich. Wenn er hineinbläst, gehorcht sie blind.
Es sei ein uraltes Märchen, mit dem man Kindern zu allen Zeiten Angst eingeflöst habe.
Ich bat und bettelte und flehte Jonathan an, nach Nangijala zurückzukehren. Doch er sagte: Wir dürfen Orwa nicht im Stich lassen! Hab keine Angst, Katla kann uns hier nichts tun, wie sehr sie auch an ihrer Kette zerrt und reisst.
Es war schon seltsam zu wissen, dass unter uns diese unheimliche Höhle mit all ihren Gängen und Nieschen lag, wo so viele Menschen verschmachtet und umgekommen waren. Und hier draussen flatterten Schmetterlinge im Sonnenschein umher, am blauen Himmel über uns segelte weisse Wölkchen und um uns herum blühten Blumen im Gras. Wahrhaftig: Auf dem Dach der Katlahöhle blühten Blumen.
Orwar kann sterben, doch die Freiheit nie.
Vielleicht war alles schon vorherbestimmt, seit der Urzeit der Märchen und Sagen.
Denn ich will bei dir sein, fuhr ich fort, auch wenn es in einem unterirdischen Höllenreich ist.
Mir kam die Luft dick vor von all der alten eingetrockneten Bosheit.
Ich weiss es nicht, sagte er. Aber wenn du nicht den Verstand verlieren willst, dann denk jetzt nicht daran.
Schon jetzt spürte man, wer er war: kein armer Gefangener, sondern ein Anführer und Freiheitskämpfer war Orwar aus dem Heckenrosental.
Als dieser sich aufgesetzt hatte und nun umherblickte, sich erinnerte und begriff, dass er nicht länger in der Katlahöhle war, traten ihm Tränen in die Augen. Frei, murmelte er, frei! Nein, dass ich lebe! Dass ich wirklich frei bin und lebe!
Dann sah ich den Katlaberg jenseits des Flusses und ich konnte nicht fassen, dass jemand so grausam sein konnte, andere Menschen in solche schrecklichen Höhlen einzusperren.
Geradewegs ins Verderben würde er sie führen, falls niemand ihn daran hinderte. Aber irgendjemand musste ihn daran hindern, dachte ich. Dann begriff ich: Hilfe, ich selber muss es tun! Und ich durfte nicht zögern.
Schliesslich kam der Tag des Kampfes, auf den alle gewartet hatten.
Der Sturm der Freiheit wird kommmen, er wird die Unterdrücker niederreissen wie stürzende Bäume.
Sie wollen vom Freiheitssturm hören, genau wie Kinder Märchen hören wollen, sagte Matthias.
Mir freilich graute davor. Schliesslich aber sehnte ich selbst den Tag herbei, denn ständig nur darauf warten zu müssen wurde unerträglich.
Und dann werden wir gemeinsam siegen oder sterben.
Nein, Jonathan töte Katla nicht. Karm tat es. Und Katla tötete Karm. Vor unseren Augen. Wir sahen es. Niemand ausser Jonathan und mir hat gesehen, wie zwei Ungeheuer aus der Urzeit einander vernichteten. Wir sahen sie im Karmafall kämpfen, bis sie tot waren.
In Nangilima ... in Nangilima. Dort ist noch die Zeit der Lagerfeuer und der Sagen. Der arme Matthias, sagte ich, dann gibt es dort also auch Abenteuer, die es nicht geben dürfte. Aber da erklärte mir Jonathan, dass in Nangilima nicht die grausame Sagenzeit herrschte, sondern eine heitere Zeit voller Freude und Spiel. Ja, dort spielten die Menschen, natürlich arbeiteten sie auch und halfen einander bei allem, aber sie spielten auch viel und sangen und tanzten und erzählten Märchen. Bisweilen erschreckten sie die Kinder mit bösen und grausamen Sagen von Ungeheuern, solche wie Katla und Karm, und von grimmigen Männern, solchen wie Tengil. Hinterher aber lachten sie darüber.
Von Nangilima zu hören, das so weit von uns entfernt lag, das war kein Trost.
Ich kan nur noch die Arme bewegen, sagte er. Und bald kann ich auch das nicht mehr.
Habe ich dir nicht gesagt, wo du hingehst, da gehe ich auch hin?
Ich dachte, wir könnten vielleicht noch einmal springen. Hier den Abgrund hinunter. Ja, dann sterben wir, sagte ich. Aber kommen wir dann auch nach Nangilima? Ja, gewiss, sagte Jonathan. In diesem Augenblick, wo wir dort unten ankommen, sehen wir schon das Licht von Nangilima. Wir sehen die Morgensonne über Nangilimas Tälern leuchten, denn dort ist jetzt Morgen. Dann könnten wir also gradewegs nach Nangilima hineinspringen, sagte ch und lachte zum ersten Mal seit langem.
Ich kann mich kein bisschen beeilen, sagte er. Ich komme ja nicht vom Fleck. Hast du das vergessen? Und da begriff ich, was ich zu tun hatte. Jonathan, ich nehme dich auf den Rücken, sagte ich. Du hast es einmal für mich getan. Und jetz tue ich es für dich. Das ist nur gerecht.
Ich sah die Tiefe unter mir nicht, doch ich wusste, dass sie da war. Und ich brauchte nur einen Schritt ins Dunkle zu tun, dann war alles vorbei. Es würde ganz schnell gehen. Krümel Löwenherz, sagte Jonathan, hast du Angst? Nein ... doch, ich habe Angst! Aber ich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt ... jetzt ... Und dann werde ich nie wieder Angst haben. Nie wieder Angst ha...
Oh, Nangilima! Ja, Johnathan, ich sehe das Licht! Ich sehe das Licht!

Astrid Lindgren. 1974. Die Brüder Löwenherz. Verlag Friedrich Oetinger.

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