Freitag, 22. Mai 2009

Zwei Gedichte von Hermann Hesse

‚Ein (post-strukturalistischer) Traum’

In einem Kloster im Gebirge zu Gast,
Trat ich, da alle beten gangen waren,
In einen Büchersaal. Im Abendsonnenglast
Still glänzten an der Wand mit wunderbaren
Inschrift tausend pergamentene Rücken.
Voll Wissbegierde griff ich und Entzücken
Ein erstes Buch zur Probe, nahm und las:
„Zur Zirkelquadratur der letzte Schritt.“
Dies Buch, so dachte ich rasch, nehme ich mir mit!
Ein anderes Buch, goldlederner Quartant,
Auf dessen Rücken klein geschrieben stand:
„Wie Adam auch vom anderen Baume ass“ ...
Vom anderen Baum? Von welchem: Dem des Lebens!
So ist Adam unsterblich? Nicht vergebens,
So sah ich, war ich hier, und einen Folianten
Erblickte ich, der an Rücken, Schnitt und Kanten
In regenbogenfarbenen Tönen strahlte.
Sein Titel lautete, der handgemalte:
„Der Farben und der Töne Sinn-Entsprechung.
Nachweis, wie jeder Farb’ und Farbenbrechung
Als Antwort eine Tonart zugehöre.“
O wie verheissungsvoll die Farbenchöre
Mir funkelten! Und ich begann zu ahnen,
Und jeder Griff nach einem Buch bewies es:
Dies war die Bücherei des Paradieses;
Auf alle Fragen, die mich je bedrängten,
Alle Erkenntnisdürste, die mich je versengten,
War Antwort hier und jedem Hunger Brot
Des Geistes aufbewahrt. Denn wo ich einen Band
Mit schnellem Blick befragte, jedem stand
Ein Titel angeschrieben voll Versprechen;
Es war hier vorgesorgt für jede Not,
Es waren alle Früchte hier zu brechen,
Nach welchen je ein Schüler ahnend bangte,
Nach welchen je ein Meister wagend langte.
Es war der Sinn, der innerste und reinste
Jedweder Weisheit, Dichtung, Wissenschaft,
War jeder Fragestellung Zauberkraft
Samt Schlüssel und Vokabular, es war die feinste
Essenz des Geistes hier in unerhörten,
Geheimen Meisterbüchern aufbewahrt.
Die Schlüssel lagen hier zu jeder Art
Von Frage und Geheimnis und gehörten
Dem, dem der Zauberstunde Gunst sie bot.
So legt ich denn, mir zitterten die Hände,
Aufs Lesepult mir einen dieser Bände,
Entzifferte die magische Bilderschrift,
So, wie im Traum man oft das Niegelernte
Halb spielend unternimmt und glücklich trifft.
Und alsbald war beschwingt ich in besternte
Geisträume unterwegs, dem Tiefkreis eingebaut,
In welchem alles, was an Offenbarung
Der Völker Ahnung bildlich je erschaute,
Erbe jahrtausendalter Welterfahrung,
Harmonisch sich zu immer neuen Bindungen
Begegnete und eins aufs andre rückbezog,
Alten Erkenntnissen, Sinnbildern, Findungen
Stets neue, höhere Fragen jung entflog,
So dass ich lesend, in Minuten oder Stunden,
Der ganzen Menschheit Weg noch einmal ging
Und ihrer ältesten und jüngsten Kunden
Gemeinsam inneren Sinn in mir empfing.
Ich las und sah der Bilderschrift Gestalten
Sich miteinander paaren, rückentfalten,
Zu Reigen ordnen, auseinanderfliessen
Und sich in neue Bildungen ergiessen,
Kaleidoskop sinnbildlicher Figuren,
Die unerschöpflich neuen Sinn erfuhren.
Und wie ich so, von Schauungen geblendet,
Vom Buch aufsah zu kurzer Augenrast,
Sah ich: ich war hier nicht der einzige Gast.
Es standen im Saal, den Büchern zugewendet,
Ein alter Mann, vielleicht der Archivar,
Den sah ich ernsthaft, seines Amts befliessen,
Beschäftigt bei den Büchern, und es war
Der eifrigen Arbeit Art und Sinn zu wissen
Mir seltsam wichtig. Dieser alte Mann,
So sah ich, nahm mit zarter Greisenhand
Ein Buch heraus, las was auf Buches Rücken
Geschrieben stand, hauchte aus blassem Munde
Den Titel an – ein Titel zum Entzücken,
Gewähr für manche köstliche Lesestunde! –
Löscht’ ihn mit wischendem Finger leise fort,
Schrieb lächelnd einen neuen, einen andern,
Ganz andern Titel drauf, begann zu wandern
Und griff nach einem Buch bald da, bald dort,
Löscht’ sein Titel aus, schrieb einen andern.
Verwirrt sah ich ihm lange zu und kehrte,
Da mein Verstand sich zu begreifen wehrte,
Zurück zum Buch, drin ich erst wenig Zeilen
Gelesen hatte; doch die Bilderfolgen,
Die eben mich beseligt, fand ich nimmer,
Es löste sich und schien mir zu enteilen
Die Zeichenwelt, in der ich kaum gewandelt
Und die so reich vom Sinn der Welt gehandelt;
Sie wankte, kreiste, schien sich zu verwolken,
Und im Zerfliessen liess sie nichts zurück
Als leeren Pergamentes grauen Schimmer.
Auf meiner Schulter spürte ich eine Hand
Und blickte auf, der fleissige Alte stand
Bei mir, und ich erhob mich. Lächelnd nahm
Er nun mein Buch, ein Schauer überkam
Mich wie ein Frieren, und sein Finger glitt
Wie Schwamm darüber; auf das leere Leder
Schrieb neue Titel, Fragen und Versprechungen,
Schrieb ältester Fragen neuste jüngste Brechungen
Sorgfältig buchstabierend seine Feder.
Dann nahm er Buch und Feder schweigend mit.

Aus: 'Das Glasperlenspiel', Hesse 1943/2002: 444-447.



‚Seifenblasen’

Es destilliert aus Studien und Gedanken
Vielvieler Jahre spät ein alter Mann
Sein Alterswerk, in dessen krause Ranken
Er spielend manche süsse Weisheit spann.
Hinstürmt voll Glut ein eifriger Student,
Der sich in Büchereien und Archiven
Viel umgetan und den der Ehrgeiz brennt,
Ein Jugendwerk voll genialischer Tiefen.
Es sitzt und bläst ein Knabe in den Halm,
Er füllt mit Atem farbige Seifenblasen,
Und jede prunkt und lobpreist wie ein Psalm,
Alle seine Seele gibt er hin im Blasen.
Und alle drei, Greis, Knabe und Student
Erschaffen aus dem Maya-Schaum der Welten
Zauberische Träume, die an sich nichts gelten,
In welchen aber lächelnd sich erkennt
Das ewige Licht, und freudiger entbrennt.

Aus: ‚Das Glasperlenspiel’, Hesse, 1943/2002: 448.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.